François B. Lamiche, Kartenspielerin, Paris, um 1855

Katalogtext zu Los 3 der 22. Ostlicht Photo Auction am 2.10.2020. Schätzpreis € 14000–16000. Publiziert im Auktionskatalog, hg. von Peter Coeln, Wien 2020, S. 13 (dort gekürzte Fassung)

FRANÇOIS BENJAMIN LAMICHE, Kartenlegerin, Paris, um 1855. Stereodaguerreotypie, 8,4 x 17,1 cm. Nach Restaurierung neu versiegelt in geschwärztem Glas, Goldgrund mit schwarzer Rahmung um Bildöffnungen mit gerundeten Ecken, Kratzungen lassen den Schmuck silbern glänzen. Courtesy: Ostlicht Photo Auction, Wien (Lot 3)

Im Medium der Stereodaguerreotypie entwickelten die Pioniere der erotischen Aktfotografie neue ikonografische Typen sowie neue Produktions- und Vertriebsstrategien. Dabei blieb das Repertoire an narrativen Darstellungen anfangs noch relativ schmal – es überwogen Boudoir-Szenen, in denen die Darbietung körperlicher Reize im Vordergrund stand. Umso ungewöhnlicher sind aufwändigere Inszenierungen, die ein anziehendes Arrangement um einen erzählerischen Kontext erweitern, wie im Fall der vorliegenden Stereodaguerreotypie. Diese beeindruckt auch durch Schärfe und aufnahmetechnische Qualität, wie sie etwa am gespiegelten Kandelaber ersichtlich werden.

Mit sieben Kartenstapel vor sich auf dem Polstermöbel liegen, scheint eine schöne Nackte Solitaire zu spielen. Doch ihr koketter Blick adressiert den Betrachter und sie gibt ihm raffiniert zu verstehen, dass er sich willkommen fühlen darf: in einer manierierten Fingerhaltung – die sich in ihrer anderen, zum Ohr geführten Hand wiederholt – hält sie eine Pik-As, wobei die Spitze des Symbols auf ihren Körper zeigt. Der Name der Kartenfarbe (frz. pique, für Spieß oder Lanze) macht diese Geste als eindeutige Aufforderung lesbar.

FRANÇOIS BENJAMIN LAMICHE, Kartenlegerin, Paris, um 1855 (Detail aus obiger Abbildung)

Weitere Hinweise geben die offene, schmucklos getragene Haartracht des Modells – was selbst in lasziveren der frühen Aktdarstellungen selten vorkommt – und der gebauschte Tüllstoff (übrigens eine Erfindung des 19. Jahrhunderts aus der französischen Stadt Tulle). Das Assoziationsfeld von spielerischem Necken eröffnet die Kleinplastik von James Pradier (1790–1852) am Kamin, die ein Kind darstellt, das mit einem Hund spielt. Sie ist auch ein Indiz für die Zuschreibung an François Benjamin Lamiche (1808–1875), der nach einer bewegten Laufbahn als Kaufmann mit Bildern von Pradiers Statuetten seine Tätigkeit als Fotograf aufnahm – seine Stereodaguerreotypie von genau jenem Objekt mit dem spielenden Kind befindet sich heute im Musée Nicéphore Niépce. Ab 1954 betrieb er in Paris ein Studio an der Rue du Pont Louis-Philippe; 1857 wurde er wegen Handels mit obszönen Fotografien vor Gericht gestellt und verurteilt. Als er Berufung einlegte und die Behörde seine Bilder genauer in Augenschein nahm, wurde das Strafmaß erhöht.

Lamiche war überdies ein leidenschaftlicher Demokrat und Verfechter der Republik. Er regte zahlreiche Berufskollegen an, gegen die Beschlagnahmung und Zerstörung ihrer Aktaufnahmen bei Kaiser Napoleon III. eine Protestnote zu unterzeichnen, was aber eine noch gezieltere Verfolgung bewirkte. Als Lamiche aus dem Gefängnis kam, begann er an der stereoskopischen Serie ›Les Diableries‹ zu arbeiten, die sich durch besonderen Anspielungsreichtum auszeichnet und Politik wie Moral des Second Empire vielschichtig kritisiert.

Lit.: Denis Pellerin, Geschichte der Aktfotografie in Stereo-Daguerreotypien, Collection T. + W. Bosshart, London: Bea & Poly 2020, S. 200 (fast idente Variante, lediglich abweichend in der noch deutlicher erhaltenen Kolorierung sowie in der Haltung der Hände; Zuschreibung an F. B. Lamiche und Identifikation des Modells als Marie Détourbet durch Pellerin)