Cora Pongracz: Das fotografische Werk, Verschiebungen. Die späteren Arbeiten

Teil III des Aufsatzes zur Publikation im Verlag Schlebrügge.editor: Cora Pongracz. Das fotografische Werk, hg. von Marie Röbl und Peter Coeln / Fotosammlung OstLicht, Wien 2016, S. 127–132

CORA PONGRACZ. DAS FOTOGRAFISCHE WERK, hg. von Marie Röbl und Peter Coeln / Fotosammlung OstLicht, mit Texten Ders. sowie von Felix de Mendelssohn, Reinhard Priessnitz, Cora Pongracz, Carola Dertnig, Rosemarie Schwarzwälder, Cathrin Pichler, Ferdinand Schmatz und Silvia Eiblmayr, Gestaltung: Martha Stutteregger, Wien: Schlebrügge.editor 2016 (Deutsch, Softcover 22,3 x 29,7 cm, 200 Seiten, 348 Abb., ISBN 978-3-902833-87-7)

Etwa mit Beginn der achtziger Jahre schränkten sich Cora Pongracz’ Wirkungsfelder als Fotografin merklich ein. Die Umstände, die dazu führten, lassen sich hier nicht angemessen ausführen, werden aber angesprochen, da sie auch Auswirkungen auf ihre Arbeit hatten. Pongracz’ bereits seit längerem labile Konstitution äußerte sich zunehmend in Psychosen, die Therapien notwendig machten und ihren Alltag wie ihre sozialen Beziehungen belasteten. 1982 kam es zur Trennung von Reinhard Priessnitz. Er blieb mit Sohn Konrad im ehemals gemeinsamen Haushalt, während Pongracz in ihre frühere Wohnung nach Wien-Unterdöbling zog und tagsüber am Sozialpsychiatrischen Zentrum der Caritas betreut wurde. Der frühe Tod von Priessnitz im November 1985 führte schließlich zu einer weiteren Distanzierung von jenen Lebensräumen, in denen sich Pongracz zuvor bewegt hatte. Obwohl noch vereinzelt Arbeiten im Rahmen von Gruppenprojekten1 und aktuelle fotografische Serien sporadisch in kleineren Ausstellungen2 vorgestellt wurden, verschwand die Fotokünstlerin immer mehr aus der öffentlichen Wahrnehmung und ihr Werk drohte in Vergessenheit zu geraten. 1992 wurde Pongracz in das Maimonides-Zentrum aufgenommen, ein Sanatorium der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, wobei sie weiterhin auch durch Sozialarbeiter/innen und Ärzte des Sozialpsychiatrischen Zentrums betreut wurde.3 Hier verbrachte sie das letzte Jahrzehnt ihres Lebens, in dem sich ihre Gesamtsituation etwas besserte. Die geradezu rituell aufgenommenen Porträts von BesucherInnen zeigen, dass sich auch neue Kontakte ergaben.

CORA PONGRAZ, Silvia Steinek zu Besuch im Maimonides-Zentrum, Wien, 1998/2000. Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht, Inv.-Nr. 57-04527, Kat. S. 166

Auf Betreiben von Silvia Eiblmayr, Rainer Iglar und Silvia Steinek wurden in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die Sicherung des Negativarchivs am Fotohof Salzburg eingeleitet, Neuauflagen ihrer früheren Fotografien produziert und mehrere Einzelausstellungen ausgerichtet.4 2000, drei Jahre vor ihrem Tod, erhielt Cora Pongracz schließlich den Würdigungspreis für künstlerische Fotografie der Republik Österreich. Im Jahr darauf erschien ein Buch, das einen ersten Überblick über ihr vielfältiges Schaffen vermittelt; Ferdinand Schmatz verfasste dafür einen Text, der erstmals mehr als nur eine einzelne Werkgruppe berücksichtigte und die Besonderheit von Pongracz’ Herangehensweise in ihrer fotografischen Personendarstellung hervorhob.5

In den letzten beiden Jahrzehnten ihres Schaffens fand Pongracz ihre fotografischen Motive vor allem an den genannten Betreuungseinrichtungen. Das Themenfeld von Identität und Subjektkonstituierung muss Pongracz nun auch unmittelbar auf persönlicher Ebene beschäftigt haben. Dennoch ist der Eindruck einer ›zutiefst privaten Ausstrahlung‹, den eine Rezensentin dieser Fotografien 1990 gewann,6 insofern irreführend, als sich in diesem Werkabschnitt eine neue Dimension ihrer fotokünstlerischen Arbeit zeigt, die eine Weiterentwicklung ihrer vorhergehenden Projekte darstellt. Wie die Serien für ihr Projekt ›verwechslungen‹ zeugen die späteren Bilder nicht nur von Pongracz’ Zugang zum jeweiligen ›Aufnahmegegenstand‹, sondern stellen ebenso weiter reichende Fragen zur Disposition, etwa zum Status dieses vermeintlich so eindeutigen Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Allerdings manifestieren sich diese reflexiven Aspekte in den späteren Fotografien stärker im konkreten Akt der Aufnahme sowie der daraus resultierenden Bildästhetik und weniger in konzeptuellen Strategien zur Entwicklung von Werksystemen.

1981 publizierte Pongracz eine Auswahl ihrer Serie Besondere Portraits, die während Zusammenkünften der Demokratischen Psychiatrie Wien, einer ›Vereinigung von Patienten, Betreuern und interessierten Laien‹, entstand.7 Wie stets ohne namentliche Bezeichnung zeigen ihre Bilder verschiedene TeilnehmerInnen in nahsichtigen, oft unscharfen Aufnahmen.

CORA PONGRAZ, Treffen der ›Demokratischen Psychiatrie Wien‹, ca. 1980. Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht, Kat. S. 133

Unter der Überschrift ›Wo sind denn da die Kranken?‹ erschien dazu ein Text des Tiefenpsychologen und Psychotherapeuten Hans Strotzka, bei dem Pongracz in Behandlung stand. Er verweist auf die lange Geschichte der gesellschaftlichen Ausgrenzung und medizinischen Vernachlässigung von Psychiatriepatient/innen, worin sich die Kultur eines Landes ebenso widerspiegle wie in dessen Kunstproduktion und -rezeption. Auch wenn sich Strotzka aus seiner fachärztlichen Perspektive bewusst einer näheren Erörterung der Fotografien enthält, liefert er dazu implizit zwei aufschlussreiche Hinweise. Zunächst deutet seine Bezeichnung der Serie als ›Porträtdokumentation‹ jenen Widerstand an, den Pongracz’ Personen-Aufnahmen herkömmlichen Vorstellungen von Porträts entgegensetzen; des Weiteren gibt Strotzka zu verstehen, dass er diese vor allem als ein Angebot sieht, diskriminierende Vorurteile zu reflektieren oder zu revidieren. Damit misst er Pongracz’ Fotografien ein kritisches Potenzial zu, dessen Brisanz nachvollziehbar wird, wenn man sich die Geschichte der Fotografie und ihrer diskursiven Kontexte vergegenwärtigt: So wurde das fotografische Aufzeichnungsverfahren im 19. Jahrhundert eingesetzt, nicht nur um die Phänomene psychischer Erkrankungen – vor allem der Hysterie – zu registrieren, sondern auch, um diese zu inszenieren und damit herzustellen. Diese Praxis, für die besonders der Neurologe und Amateurfotograf Jean-Martin Charcot (1825–1893) bekannt wurde, war sowohl relevant für die medizinische Forschung als auch für die Prägung des fotografischen Paradigmas der Dokumentation.8

Im zwanzigsten Jahrhundert, vor dem Hintergrund dezidiert humanistischer Auffassungen von Fotografie, waren ›Geisteskranke und Irrenhäuser‹ vielfach Themen von Reportagen, die Einblick in eine sonst unsichtbare, (ab)geschlossene Welt boten.9 Die Bilder, die damit nach außen getragen wurden, vermittelten allerdings nicht zwischen geschiedenen Sphären: in einer ›exotistischen‹ Beziehung zwischen einem einseitig agierendem Beobachter und dem von ihm dar- (oder gar bloß-)gestellten Beobachteten drückt sich vielmehr Unüberbrückbarkeit aus; die Grenze zur Sphäre eines fremden Gegenübers wird nicht nur gewahrt, sondern auch besiegelt. Diese Grenze markiert eines jener Konzepte, gegen die die Antipsychiatrie-Bewegung in den sechziger Jahren ankämpfte.

Aus Felix de Mendelssohns Text (S. 29f. in diesem Buch) geht hervor, dass Pongracz mit den Ideen dieser Bewegung in Berührung kam, als sie in London lebte. Hier arbeiteten die Psychiater David Cooper und Ronald D. Laing daran, zentrale Grundlagen der Diagnose und Behandlung neu zu definieren; in Wohngemeinschaften wurde eine Umsetzung ihrer Kritik an der institutionellen Psychiatrie erprobt. Die Auseinandersetzung mit derartigen Diskursen (die am nachhaltigsten über Schriften von Michel Foucault wirkte, der als Vordenker der Antipsychiatrie-Bewegung gilt) hatte ebenfalls Einfluss auf jene Zirkel der Wiener Avantgarde, mit denen Pongracz in den siebziger Jahren arbeitete, etwa auf Kreise um Otto Muehl.10 Diese Zusammenhänge sollen darauf hinweisen, dass Pongracz’ Perspektive auf die Thematik ihrer späteren Arbeiten keineswegs nur unmittelbar aus persönlicher Betroffenheit als Patientin herrührt. Ihr spezifischer Blickwinkel äußert sich deutlich in der fotografischen Ästhetik ihrer Bilder.

Ein Vergleich erlaubt eine erste Bestimmung: Unter dem Titel ›Milieu‹ findet sich in derselben Ausgabe der protokolle, in der 1981 auch Pongracz’ Besondere Portraits publiziert wurden, eine Bildstrecke von Manfred Willmann mit 35 Mittelformat-Aufnahmen, von denen viele zeitgleich in seinem Fotobuch Schwarz und Gold erschienen.11 Wie Pongracz zuvor in Wien, fotografierte Willmann seinen Familien- und Freundeskreis in Graz, ebenso im Umfeld der Kunstszene (Christine Frisinghelli, Alfred Kolleritsch, Barbara Frischmuth, Otto Breicha, Seiichi und Christine Furuya, Sylvia und Wolfgang Bauer u.a.). Es sind frühe Beispiele für Willmanns ›Blitzästhetik‹, für die er später vor allem durch sein Farbfotografie-Projekt Das Land bekannt wurde.12 Jede Aufnahme zeigt Willmanns subjektiven Blick, die oft ungewöhnliche Kadrierung seinen sicheren Zugriff auf ein Szenario, aus dem er prägnant hervorhebt, was sonst in den gegebenen Lichtverhältnissen verborgen oder im Kontinuum des Zeitverlaufes unbemerkt bliebe.

CORA PONGRAZ, Sozialpsychiatrisches Zentrum der Caritas, Wien, Wiedner Hauptstraße, 1984. Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht, Inv.-Nr. 57-04495, Kat. S. 138

Betrachtet man Pongracz’ Aufnahmen vom Alltag am Sozialpsychiatrischen Zentrum, so nimmt sich ihre Bildsprache neben Willmanns autorenfotografischer Position geradezu konträr aus: Es überwiegt das Halbdunkel spärlicher Beleuchtung, die Personen sind häufig in Bewegung erfasst und bleiben durch Unschärfe gleichsam mit ihrem Umraum verwoben; Unter- oder Überbelichtung führen zu einer Reduktion der Durchzeichnung. Zudem ist das Aufgenommene aber nicht nur aus dem Fokus der Optik gerückt, sondern erscheint auch in der Bildgestaltung vergleichsweise ›ungeordnet‹, wie verschoben; markante Posen oder ›entscheidende Momente‹ sucht man vergebens.

Mit Cathrin Pichler lässt sich sagen: Pongracz’ Aufnahmen verweigern sich jenem ›Besonderen‹, das – sowohl auf der Ebene des Bildgegenstandes als auch der Bildgestaltung –, ›unmittelbar den Status ,Bild‘ ergäbe‹.13 Pichler verweist auf eine Implikation von Pongracz’ Aufnahmen, die das Geschehen wie ›hinter einem Schleier‹ vor dem Betrachter ›bewahren‹, als sollte ›sein Blick die Augen nicht treffen, die diese Bilder zuerst gesehen haben‹. Das Dreiecksverhältnis von Porträtiertem, Kamera und Fotografin, deren Rollenverteilung und Zusammenspiel etwa in den 8 erweiterten portraits und ›verwechslungen‹ bereits spezifische Verschiebungen erfahren hatte, wird nun weiter modifiziert. Die zentrale Funktion der Bildautorin, üblicherweise wirksam als eine gestaltende Kraft, die über das Motiv oder Modell bestimmt, manifestiert sich hier als Schleier im Bild, der Verschleiertes bewahrt. Ebenso wie die Macht eines virtuosen fotografischen Blicks wird die Verbindlichkeit des Faktischen (im Sinne fotografischen Dokumentierens) infrage gestellt, indem die technischen Parameter der Aufzeichnung gleichsam in Fluss gebracht werden, bis hin zur teilweisen Auflösung der Abbildung.

CORA PONGRAZ, Fotografie 1989, hg. von Rosemarie Schwarzwälder, Kat. S. 187

Dies zeigt sich nicht nur in den Aufnahmen am Sozialpsychiatrischen Zentrum an (wo man dies eventuell in Diskretion begründet sehen könnte), sondern auch in Bildfolgen, die auf Ausflügen entstanden. Da Negative dieser Aufnahmen im Nachlass fehlen, folgt die Beschreibung ihrer Druckfassung in einer kleinformatigen Broschüre:14 Eine sechsteilige Serie, die sich filmisch lesen lässt, beginnt mit einem Blick auf Sparber und Bleckwand am Wolfgangsee; die Berge sind zwar an ihren Gipfelsilhouetten identifizierbar, aber keineswegs imposant ins Bild gesetzt, da sie die Bäume und Gebäude davor kaum überragen – welche ihrerseits auch keine Hauptmotive zu sein scheinen; die Kamera schwenkt um, auf eine Restaurantterrasse mit Seeblick – alles verschwommen, vor allem eine Art Repoussoirmotiv, ein grobkörniger (Schatten?-)Balken, der direkt auf die herbeikommende Kellnerin zielt; nächster Blickwechsel auf eine ›Unordnung‹ an Stuhlbeinen, Sitzflächen und Ausflügler-Hinterbacken, also nach unten, wo sich auch mehrere Pudel langweilen. Schließlich richtet sich die Kamera auf einen Terrier mit Kinnbart, der in dieselbe Richtung blickt wie die Personen vor ihm; folgt man dieser Richtung ins nebenstehende Bild, zeigen sich vernebelte Gebirgsketten mit milchigem Wolfgangsee und einsamer Boje – wobei man sich fragt, ob es sich nicht auch um einen Schwan handeln könnte.

CORA PONGRAZ, Fotografie 1989, hg. von Rosemarie Schwarzwälder, Kat. S. 189

Eine weitere Sequenz von einem Spaziergang um das Schönbrunner Palmenhaus aus derselben Publikation beginnt mit einer unspektakulären Totale auf das in Restaurierung befindliche Bauwerk, das als graue Masse zwischen einem Kran, Betonbehältern und zylindrisch beschnittenen Buxbäumen auftaucht. Alle weiteren Bilder sind Nahaufnahmen der Fassade, in deren schmutzigen Glasscheiben sich Spiegelungen von Gerüsten, Bauteilen und Laub erkennen lassen; die Bildausschnitte sind meist ›schief‹, sie orientieren sich weder am orthogonalen Raster der Architektur, noch widersetzen sie sich ihm offensiv; vereinzelt öffnen sich kleine Fenster, aber was sie dem Blick freigeben, wird nur um weniges deutlicher als die trüben Reflexionen im Glas – Fensterausblicke und Spiegelungen, diese zentralen Metaphern unserer Bildkultur, werden hier gleichsam zu Fallen.

Pongracz’ spezifische Adaption der Funktion des bildnerischen Autors, wie sie sich in ihren Arbeiten aus den achtziger Jahren zeigt, zielt also nicht auf dessen Auflösung (worauf etwa die Konzeptkunst durchaus einige Anläufe nahm). Dies geht aus der narrativen, auch humorvollen Blickregie dieser Bildfolgen hervor. Allerdings verzichtet sie weitgehend darauf, die apparativen und handwerklichen Parameter des Fotografierens als objektivierende, ordnende oder ostentativ kreative, auktoriale Filter des Gesehenen einzusetzen. Es stellt sich die Frage, ob sich weitere Deutungen dieses Verzichts finden lassen, oder anders formuliert, wofür jene verschleiernde Unschärfe sowie kompositorische ›Unordnung‹ als ästhetische Konzepte stehen.

Wie der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich zeigte, reüssierte Unschärfe im Lauf der Geschichte fotografischer Gestaltung vielfach und wurde dabei ideologisch unterschiedlich besetzt.15 Sie ermöglichte es, durch die Auflösung der Details größere Zusammenhänge erkennen zu lassen und schuf einen Fluchtraum des Transzendenten, der (etwa den Vertreter/innen des Piktorialismus) auch künstlerische Dignität garantierte. Unschärfe suggerierte Affinitäten zum ›inneren Bild‹, das man sich – wie die Erinnerung – als blass und vage, nie ›fotorealistisch‹ detailliert vorstellte. Mit verschwommenen Bildern wurde sowohl Dynamik wie auch ein Ausnahmezustand markiert, ein Moment zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Stillstand und Bewegung. Im Fotojournalismus hingegen fungierte Unschärfe als Zeichen für Authentizität, das außergewöhnliche Entstehungsumstände belegt sowie die ›Ehrlichkeit‹ des am Geschehen involvierten Reporters, der offenbar ohne Kalkül fotografierte.

Etwa zur Entstehungszeit von Pongracz’ späteren Arbeiten wurden diese historischen Fassungen von Unschärfe(n) von Künstlern der Postmoderne wie Gerhard Richter oder Thomas Ruff reaktiviert und als rhetorische Topoi durchgespielt, die man so von den damit verknüpften ideologischen Ansprüchen befreite. In weiterer Folge – und über Pongracz’ Schaffenszeit hinausreichend – wurde Unschärfe zu einer Mode der Werbe- und Life-Style-Fotografie, ein inflationäres Signum für ›Exklusivität‹, vor allem seit der Durchsetzung digitaler Bildproduktion und -bearbeitung. Kurz bevor sich diese technologische Wende durchsetzte, wurde 1992 in Wien von einigen Studenten die Lomografie aufgebracht, benannt nach der technisch unzeitgemäßen russischen Lomo, die dadurch zur Kultkamera wurde.16 Die Jugendfotobewegung fand weite Verbreitung, bis sie von Online-Diensten bzw. Mobiltelefon-Apps wie Instagram abgelöst wurde. Ohne deren soziale Funktionen und medienpolitischen Implikationen hier näher erläutern zu können, sei festgehalten, dass sowohl Unschärfe als auch der Verzicht auf besondere Gestaltungsabsichten zum Programm dieser Retro-Bildästhetik gehörten, die damit eine unprätentiöse Unmittelbarkeit transportierte und als Lebensgefühl (mit)teilte.

Viele der hier zusammengefassten Bedeutungen schwingen bei der Betrachtung von Pongracz’ späteren Aufnahmen mit, andere zeigen allenfalls, was für ihre Arbeit irrelevant war: So kann ausgeschlossen werden, dass sie Darstellungsmittel ›zitiert‹, um deren Funktionsweise zu dekonstruieren; auch setzt sie diese nie als Blickfang ein, um eine schlichte Botschaft zu verkaufen. Zudem manifestieren sich im Spätwerk verschiedene Modifikationen der beschriebenen Bildsprache, wobei in den achtziger Jahren die Involviertheit – vielleicht auch das Ausgeliefertsein – der Bildautorin stärker wirksam wird, während sich ihre spätere Haltung mit einer lomografischen Aufnahmepraxis vergleichen lässt. So hielt sie etwa das Alltagsleben im Sanatorium in lakonischen Schnappschüssen von BewohnerInnen, PflegerInnen, BesucherInnen und Handwerkern fest.

CORA PONGRAZ, Selbstporträt im Spiegel, Maimonides-Zentrum, Bauernfeldgasse, Wien, 1998/2000. Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht, Inv.-Nr. 57-04590, Kat. S. 169

Aus dieser Zeit gibt es auch ›Selfies‹ der Fotografin, etwa facettiert gespiegelt im Kosmetiksalon während einer Fußpflegebehandlung mit ihrer Kamera in Händen oder repräsentiert durch Spuren ihres Körpers am Bettpolster. Freilich können auch diese Berührungspunkte keine weitgehende Übereinstimmung beanspruchen, so wenig wie Pongracz’ mehrteilige, mit einem Text kombinierte Arbeit von 1974, die für ein feministisches Projekt von VALIE EXPORT entstand, sie als medienreflexive Konzeptkünstlerin ausweisen.17

Vielmehr zeigen diese Referenzen, dass Cora Pongracz eine Reihe von maßgeblichen Auffassungen fotografischer Praxis rezipierte, die mit Blick auf das Gesamtwerk eine erstaunliche Bandbreite aufweisen. Damit war sie sowohl in Bereichen populärer oder ›angewandter‹ Fotografie wie auch im Kontext der Kunst erfolgreich und antizipierte letztlich Entwicklungen, mit denen sich die Grenzen zwischen den traditionell getrennten Institutionen fotografischen Arbeitens aufzulösen begannen. Die Vielfältigkeit von Pongracz’ fotografischer Produktion erklärt sich aber nicht aus einer flexiblen Vielseitigkeit, mit der sie verschiedene, gleichzeitig verfügbare ›Bildsprachen‹ je nach Kontext eingesetzt hätte. Stattdessen folgte sie einem mit Mut und Sensibilität beschrittenen Weg, bei dem die unmittelbare Umsetzung aller Darstellungsaufgaben von einer zutiefst fotografischen Fragestellung begleitet wurde, die man mit Ferdinand Schmatz auf die Formel bringen könnte: Wer bestimmt wen? Damit sind Machtverhältnisse angesprochen, die besonders in der Darstellung von Personen – als lebendiger Widerpart der Bildautorin – zum Tragen kommen. Sie führen über die Bildproduktion hinaus und betreffen auch die Rezeption, die immer interpretative Arbeit der Betrachter/innen. Zuletzt bleibt die Hoffnung, hier für das ›Lesen‹ von Pongracz’ Œuvre mehr Möglichkeiten der Deutung eröffnet als bestimmende Muster festgelegt zu haben.


IntAkt [Internationale Aktionsgemeinschaft bildender Künstlerinnen]. Identitätsbilder. Malerei, Grafik, Fotografie, Bildhauerei, Installationen, Objekte, hg. v. Wiener Secession, Wien 1984; Kunst mit Eigen-Sinn. Aktuelle Kunst von Frauen. Texte und Dokumentation, hg. v. Cathrin Pichler, Silvia Eiblmayr, VALIE EXPORT /  Museum des 20. Jahrhunderts, Wien: Löcker 1985, S. 178 u. 299; Oosternrijkse Fotografie in de 20ste Eeuw Europalia 87, hg. v. Provinciaal Museum voor Fotografie, Antwerpen 1987, S. 60ff.

Cora Pongracz, Menschen, mit einem Text von Cathrin Pichler, hg. v. Fotogalerie Wien (Bilder Nr. 12), Wien 1986; Cora Pongracz, Fotografie 1989, mit einem Text von Ferdinand Schmatz, hg. v. Rosemarie Schwarzwälder / Galerie nächst St. Stephan, Wien 1989

3  Das Maimonides-Zentrum befand sich damals im 19. Wiener Bezirk an der Bauernfeldgasse 4 (seit 2009 in einem Neubau an der Simon-Wiesenthal-Gasse 5, 1020 Wien); das Sozialpsychiatrische Zentrum der Caritas ist nach-wie-vor an der Wiedner Hauptstraße 105, 1050 Wien angesiedelt.

4  Der Fotohof Salzburg übernahm 1996 die Vertretung von Cora Pongracz als Fotografin sowie das Werkarchiv; Rainer Iglar, Suse Wassibauer und Silvia Eiblmayr arbeiteten dort an der Herausgabe einer Edition und eines Buches. Ausstellungen: 1997 Wiener Secession 1898–1998. Das Jahrhundert der künstlerischen Freiheit (Gruppenschau), Secession, Wien (Kat. 1998, S. 142); Cora Pongracz, Portraits, Galerie Fotohof, Salzburg und Maimonides-Zentrum Wien. 1998 Cora Pongracz, Galerie H. S. Steinek, Wien; Maria Hahnenkamp, Matthias Herrmann, Elke Krystufek, Friedl Kubelka, Cora Pongracz, Camera Austria, Graz. 2000 Cora Pongracz, Überblick, Maimonides-Zentrum, Wien; Anwärter zum Rupertinum Fotopreis 1999, Rupertinum, Salzburg; face to face (Gruppenschau), Galerie Steinek, Wien.

Cora Pongracz. Fotografie, hg. von Silvia Eiblmayr, Rainer Iglar, Michael Mauracher, mit Texten von Ferdinand Schmatz, Reinhard Priessnitz und Maren Richter, Kat. Galerie im Taxispalais Innsbruck, Salzburg: Edition Fotohof 2001 (Ferdinand Schmatz, Jenseits der Pose posiert. Zu den fotografischen Porträts von Cora Pongracz, S. 116-118). Ausstellungen anlässlich der Preisverleihung: 2000 Cora Pongracz. Fotografie, Galerie am Taxispalais Innsbruck und Kunstverein Ludwigsburg; Überblick, Maimonides-Zentrum, Wien; 2001 Cora Pongracz, Halle Steinek, Wien.

6  Jutta Mayer, Cora Pongracz, Fotografie 1989, in: Camera Austria International, Nr. 35, Graz 1990, S. 71.

7  Cora Pongracz, Besondere Porträts (mit dem Text ›Wo sind denn da die Kranken?‹ von Hans Strotzka), in: Protokolle 81/3. Wiener Halbjahresschrift für Literatur, bildende Kunst und Musik, hg. v. Otto Breicha / Museum des XX. Jahrhunderts, 16. Jg., Heft 3, Wien: Jugend und Volk 1981, S. 227-232.

8  Georges Didi-Huberman, Die Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, Paderborn: Fink 1997

9  Vgl. etwa die fotojournalistischen Serien über mental asylums von Mary Delaney Cooke, Raymond Depardon und Jean Gaumy.

10  Wiener Aktionismus. Kunst und Aufbruch im Wien der 1960er-Jahre, hg. v. Eva Badura-Triska,  Hubert Klocker / Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2012; Gerald Schröder, Schmerzensmänner: Trauma und Therapie in der westdeutschen und österreichischen Kunst der 1960er Jahre, München: Fink 2011; Otto Muehl. Leben / Kunst / Werk. Aktion, Utopie, Malerei 1960–2004, hg. v. Peter Noever / MAK, Wien, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2004;

11  Manfred Willmann, Milieu, in: Protokolle 81/3. Wiener Halbjahresschrift für Literatur, bildende Kunst und Musik, hg. v. Otto Breicha / Museum des XX. Jahrhunderts, 16. Jg., Heft 3, Wien: Jugend und Volk 1981, S. X

12  Manfred Willmann, Das Land. Mit einem Klappentext von Hripsimé Visser, Salzburg: Edition Fotohof 2000

13  Cathrin Pichler, Turbulenz des Banalen. Turbulenzen nebenan, in: Cora Pongracz, Menschen, hg. v. Fotogalerie Wien (Bilder Nr. 12), Wien 1986, S. 2-4

14  Cora Pongracz, Fotografie 1989, mit einem Text von Ferdinand Schmatz, hg. v. Rosemarie Schwarzwälder / Galerie nächst St. Stephan, Wien 1989.

15  Wolfgang Ullrich, Die Geschichte der Unschärfe, Berlin: Wagenbach Verlag 2002

16  Website der Lomografischen Gesellschaft: https://www.lomography.com/about

17  Die von einem selbstverfassten Gedicht begleitete Serie ›Selbstdarstellung‹ zeigt geöffnete Kleider- und Küchenschränke, s. MAGNA. Feminismus: Kunst und Kreativität. Ein Überblick über die weibliche Sensibilität, Imagination, Projektion und Problematik, suggeriert durch ein Tableau von Bildern, Objekten, Fotos, Vorträgen, Diskussionen, Lesungen, Filmen, Videobändern und Aktionen, hg. v. VALIE EXPORT / Galerie nächst St. Stephan, Wien 1975, S. 24f.