Reisen im Bildraum. Stereofotografie als frühes Massenmedium

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung ›Mediengeschichte der Fotografie in Österreich von den Anfängen bis 1960‹ von Margarete Szeless und Anna Hanreich, Kunstgeschichte, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Wintersemester 2016/17, Universität Wien, Campus Hof 2, HS 1, 10.11.2016; Stereobildbearbeitung und -Projektion: Günter Macho

ANONYM, ›Photographing New York City on a slender support 18 stories above pavement of Fifth Avenue‹, verlegt 1904 by Underwood & Underwood, Stereokarte mit 2 Silbergelatineabzügen

Mein Beitrag zur Ringvorlesung ›Mediengeschichte der Fotografie in Österreich‹ führt über weite Strecken weg von der heimischen Fotoproduktion und legt den Schwerpunkt auf eine mediengeschichtliche bzw. technologische Entwicklung mit länderübergreifenden Relevanz. Wir beschäftigen uns mit internationaler Reisefotografie in Form von stereoskopischen Bilder-Serien. Erlauben Sie mir drei allgemeinere Vorbemerkungen, bevor wir diese Reise antreten: Meist wurden diese Serien von Verlagen produziert und vertrieben, die den Fotografen die Negative abkauften oder die Aufnahmen bei diesen in Auftrag gaben, wobei auf den Abzügen oder den gedruckten Untersatzkartons die Namen der Bildautoren häufig nicht angegeben wurden. Mitunter fungierten auch Fotografen selbst als Verleger und engagierten weitere Kollegen, deren Bilder sie unter ihrem eigenen Namen anboten. Dies verweist auf einen ersten Aspekt, dem nachzugehen bei der Auseinandersetzung mit historischer Fotografie generell von Bedeutung ist: die Urheberschaft. Die Anonymität vieler Produzenten von Stereofotografien steht in großem Kontrast zu einem Selbstverständnis, wie es etwa unter den Protagonisten des Piktorialismus selbstverständlich war, die sich als Künstler verstanden und ihre Gummidrucke meist direkt im Bildfeld signierten. Zwischen diesen beiden Polen eröffnet sich ein weites Feld an verschiedenen Konzepten von Autorschaft, die in der Geschichte der Fotografie vertreten und beansprucht wurden.

Ein weiterer Aspekt, der bereits im heutigen Titel angesprochen ist, verweist ebenfalls auf eine Fragestellung, die in der historischen Forschung zur Fotografie aller Epochen relevant ist: die Verbreitung und das ›Zielpublikum‹ sowie die damit zusammenhängenden Produktions- und Vertriebsstrukturen, wo es ebenfalls charakteristische Entwicklungen im Verlauf der Geschichte gibt. Im Rahmen dieser Ringvorlesung wird es ja auch einen Termin zu fotografischen Publikationskulturen geben, also jenem Feld, auf dem Fotografie eine Breitenwirksamkeit erreichte, die unserer Vorstellung von Massenmedien entspricht. Stereo-Glasdias, aber noch mehr Stereokarten waren historisch gesehen einer der allerersten Schritte einer seriellen Herstellung und auf Masse angelegten Verbreitung fotografischer Bilder; ein Schritt, der nach-wie-vor nicht gebührend Erwähnung findet, etwa wenn erst das Aufkommen der illustrierten Zeitschriften in den 1920er Jahren als jener Moment gesehen wird, mit dem fotografische Bilder Breitenwirksamkeit erreichten; im späteren Verlauf meines Vortrags werde ich darauf noch genauer zurückkommen.

Noch eine letzte Vorbemerkung: In der Präsentation im Hörsaal haben wir im Anschluss an den theoretischen Teil fünf Reisen nach Amerika, Japan, Indien, China und in die Arktis unternommen, in Form von mehr-oder-weniger dicht kommentierten Bildserien. Eine vergleichbare stereoskopische Projektion ist leider in der online-Präsentation hier nicht möglich, daher beschränke ich mich auf die Vermittlung der Grundlagen und einzelner repräsentativer Beispiele. Die reproduzierten Stereobilder stammen aus der Fotosammlung OstLicht (für die Stereo-Saalprojektion wurden sie von Günter Macho reproduziert und digital bearbeitet, wofür ich mich auch an dieser Stelle nochmals herzlich bedanke!). Meine Vorlesung basiert auf einem Vortrag, den ich 2014 im WestLicht. Schauplatz für Fotografie im Rahmen der Ausstellung ›Die Welt im Heftformat. National Geographic 1888–1950‹ gehalten habe und gliedert sich in sechs Kapitel.


1. Was ist ›Stereoskopie‹?

Obwohl der Begriff der Stereoskopie im Titel nicht explizit vorkommt, ist er für das heutige Thema wesentlich, denn er bezeichnet das Betrachtungsmodell, das uns sowohl praktisch als auch theoretisch beschäftigen wird. Ohne ein stereoskopisches Setting können fotografische Stereobilder, um die es hier gehen soll, nicht oder jedenfalls nicht in der intendierten Weise betrachtet werden. Wie eine Stereokarte ohne entsprechendes Betrachtungsgerät aussieht, zeigt unsere monoskopische Titelprojektion mit dem eleganten Amerikaner, der hoch über der Fifth Avenue fotografiert.

Dieses Auseinandertreten von Objekt und Bild ist übrigens ein paradigmatisches Phänomen technischer Medien, deren ubiquitäre Beherrschung unserer visuellen Kultur ja mit dem Aufkommen der Fotografie beginnt. Gemeint ist damit, dass das physische Bildobjekt an Bedeutung verliert gegenüber der visuellen Information, die gefiltert durch die jeweiligen Medientransfers der Vervielfältigung oder Projektion und deren Kontexte gelesen wird. Wieder können wir im Beispiel der Kunstfotografie von letzter Woche eine Gegenbewegung sehen, wo Abzüge als individuell hergestellte Pigmentdrucke auf besonderen Papieren Unikatcharakter hatten und eine Reproduktion immer nur ein Behelf für deren Rezeption sein kann (wie bei den Repräsentationen vieler malerischer oder plastischer Kunstwerke, die Sie im Rahmen Ihres Studiums in Vorlesungen oder Büchern sehen).

Der Begriff der Stereoskopie lässt sich anhand der zwei griechischen Wortstämme erläutern, die darin enthalten sind: Der Terminus stereo wird in der heutigen Alltagssprache fast ausschließlich mit HiFi-Geräten verbunden, als Abkürzung für Stereofonie, also die technische Erzeugung eines räumlichen Schalleindrucks durch zwei Lautsprecher. Das griechische Eigenschaftswort stereos (στερεός) hat aber ein deutlich weiteres Bedeutungsspektrum, das hier auch wichtig zu wissen ist, es steht für ›fest (i.S.v. begrenzt), stabil (i.S.v. greifbar), kompakt (i.S.v. räumlich, plastisch, körperlich)‹. Der zweite Teil des Wortes Stereoskopie leitet sich vom griechischen Verb sképtesthai (σκέπτεσθαι) ab, das auch in unserem gebräuchlichen Fremdwort Skepsis steckt und ›schauen, betrachten, beobachten‹ bedeutet.

In den meisten Handbüchern wird der Begriff Stereoskopie mit Raumsehen übersetzt. Gemeint ist damit aber nicht unsere natürliche visuelle Raumwahrnehmung, sondern die Technik, einen räumlichen Eindruck durch Bilder herzustellen. Vergegenwärtigt man sich nochmals die im griechischen stereos enthaltenen Bedeutungen, so wird klar, dass eine Übersetzung von Stereoskopie als Raumsehen nur einen einzigen Teilaspekt anspricht – und wir werden sehen, dass genau jene vernachlässigten Bedeutungsfelder, die von begrenzter, greifbarer, kompakter Plastizität sprechen, das Phänomen eigentlich treffender beschreiben.

Ebenfalls zumindest verkürzend, wenn nicht sogar irreführend, ist der heute bevorzugt verwendete Begriff ›3D‹; denn weder digitale 3D-Bilder noch -Filme – deren Effekte noch immer auf denselben Prinzipien basieren wie die historischen stereoskopischen Bilder – können dreidimensionalen Raum vollumfänglich simulieren bzw. darstellen. Man kann hier nochmals den Vergleich mit der Reproduktion von Tönen mittels einer Stereo-Anlage anstellen: dabei wird zwar mit zwei Boxen ein deutlich besserer, räumlicherer Klang als mit einem Monogerät erreicht, aber eben auch nicht der volle Klang wiedergegeben, den man beispielsweise in einem Live-Konzert hört.

Im Bereich der visuellen Medien hätte man zum Beispiel mit der Holografie ein Verfahren, mit dem plastische Gegenstände im physikalischen Sinn vollständig dreidimensional rekonstruiert werden, so dass die Motive bei der Betrachtung frei im Raum zu schweben scheinen und man um die Objekte quasi herumsehen kann. Allerdings sind holografische Bilder weitaus schwieriger zu produzieren als stereoskopische Settings, wo man im Grunde mit zwei relativ einfach herzustellenden Bildern, für deren Aufnahme es Kameras mit zwei Objektiven gibt, und einem Betrachtungsgerät auskommt.

Die um 1830 entwickelte Stereoskopie erzeugt jedenfalls einen visuellen Effekt, der unserem natürlichen Raumeindruck auf eine besondere Weise entgegen kommt und sich darin deutlich von der Wirkung zweidimensionaler Raumdarstellungen unterscheidet.


2. ›Monoskopische‹ Raumillusion

Zweidimensionale Bilder, von eingefleischten Stereoskopie-Liebhabern als ›monoskopisch‹ bezeichnet, mit Effekten von möglichst täuschender Räumlichkeit und Plastizität zu gestalten, hat die bildende Kunst über Jahrhunderte beschäftigt. Zur Veranschaulichung zeigen wir zwei Beispiele aus dem 17. Jahrhundert, in denen verschiedene Gestaltungsmittel der Raumillusion virtuos eingesetzt wurden, wie perspektivische Verkürzung, Überschneidung, Chiaro-Scuro oder die Darstellung der sog. Luftperspektive; zunächst eine wunderbare Scheinarchitektur von Andrea Pozzo, weiters ein niederländisches Stillleben von Adrian von Utrecht, das sich durch eine dramatische, die Plastizität der Jagdbeute betonende Lichtregie auszeichnet; es gehört zur Gattung der Trompe-l’œil-Gemälde, bei denen die Absicht der Augentäuschung bereits im Begriff enthalten ist.

ANDREA POZZO, Deckenfresko ›Apotheose des Hl. Ignazius›, Rom, Sant’Ignazio, um 1680

ADRIAEN VAN UTRECHT, Stillleben mit erlegten Hasen und Vögeln am Ring, 1646. Staatl. Kunstsammlungen Dresden

In der Fotografie sind die geometrischen Prinzipien der Raumprojektion bzw. Raumdarstellung keine Frage der künstlerischen Meisterschaft, jedenfalls nicht im Sinne ihrer physikalischen Korrektheit. Denn die Fotografie hat die Perspektivkonstruktion bereits in ihrer optischen Apparatur, den Linsen im Objektiv, eingebaut – und das mag auch einer der Gründe dafür sein, warum eine vergleichbar offensiv vorgeführte Dreidimensionalität wie in der illusionistischen Malerei für die meisten Fotografen kein Hauptinteresse darstellt.

Allerdings ist die Art der Wiedergabe räumlich-plastischer Verhältnisse eine Variable in der fotoästhetischen Gestaltung, die jede Aufnahme prägt. So ist etwa die Wahl des Objektivs mit einer bestimmten Brennweite (ob man ein Tele- oder ein Weitwinkel verwendet) eine Entscheidung, die die Komposition beziehungsweise Relation der abgebildeten Gegenstände auf dem Bild drastisch beeinflusst. Betrachtet man die Stilgeschichte der Fotografie, so lassen sich anhand einer Auseinandersetzung mit dem Bildraum vielfältige Entwicklungen aufzeigen.

    

ALEXANDER RODTSCHENKO, Kiefern, 1927  /  LEE FRIEDLANDER, Texas, aus ›America by Car‹, 2006

Beispiele von Alexander Rodtschenko und Lee Friedlander zeigen zwei Positionen, in deren fotoästhetischen Interessen die Raumdarstellung eine zentrale Rolle spielt: Bei Rodtschenko manifestiert sich die Gestaltung von Raum vor allem als mittels Blick durchmessene Ausdehnung aus einem markanten Blickwinkel. Dabei geraten die Mittel einer suggestiven Tiefenwirkung in Konkurrenz zur Bildebene: Die räumlichen Parameter der Verkürzung werden in einer Weise überspitzt, die dazu führt, dass man sie primär als Elemente der grafischen Bildflächenorganisation wahrnimmt. Diese Kompositionsmittel wurden in ihrer Entstehungszeit als willkürliche, formalistische Verzerrungen kritisiert. Sie fanden aber eine breite Nachfolge und gehören seither zum Kanon fotografischer Bildgestaltung, die z.B. aus der Werbefotografie nicht wegzudenken sind.

Friedlander ist ein Meister der vielschichtigen Raumkonstruktion, der seine Aufnahmen durch Überschneidungen, Fragmentierungen und Spiegelungen oft so komplex gestaltet, dass die fotografierten Realräume in der Bildbetrachtung kaum mehr rekonstruierbar sind. Dabei baut er häufig Spiegelungen oder Schatten seiner selbst ein und betont dadurch die Subjektivität des Blicks. Er nimmt damit auch Motive ins Bild auf, die außerhalb des perspektivisch erfassten Raumausschnittes liegen und erweitert damit den Blick gewissermaßen nach hinten, zum Bildautor hin. Es lässt sich also sagen, dass die Verletzungen der Regeln einer zweidimensional lesbaren Tiefenillusion für die klassische Fotokunst mitunter interessanter sind, als eine moderat übersichtliche zentralperspektivische Darstellung.


3. Raumsehen und Raumwahrnehmung

Wenden wir uns nun dem stereoskopischen Bildraum und seiner Entdeckung im 19. Jahrhundert zu. Die Funktionsweise des stereoskopischen Betrachtungsmodells basiert auf bestimmten Bedingungen des natürlichen Raumsehens, also unserem Vermögen, den uns umgebenden Raum als einschätzbare Tiefenwirkung sowie Gegenstände, die sich in unserem Sichtfeld befinden, als räumlich-plastisch wahrzunehmen. Die dafür notwendigen, physiologisch ungemein ausdifferenzierten Eigenschaften unserer Netzhaut und die entsprechenden neurologisch-kognitiven Leistungen sind komplex, die wichtigste Voraussetzung dafür ist aber das beidäugige Sehen.

Dass man nur mittels zweier Augen verlässlich räumlich-sehen kann, war schon seit der Antike bekannt. Leonardo da Vinci beschrieb treffend, dass wir beim Sehvorgang mittels zweier Augen einen Gegenstand gleichsam ein Stück weit ›umschauen‹: Durch die leicht unterschiedliche Perspektive aus dem Blickwinkel des linken und rechten Auges tritt vom Hintergrund eines Gegenstandes auf jedem Netzhautbild jeweils mehr ins Blickfeld als auf dem anderen.

Wie sich aus den zwei leicht voneinander abweichenden visuellen Eindrücken bei binokularen Sehen dann ein drittes Bild bzw. eine kontinuierliche räumliche Wahrnehmung – und keine Doppelbilder – einstellen, wurde schließlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforscht. Bei der Untersuchung des Binokularsehens und dieser spannenden Etappe der Reizverarbeitung, der Verschmelzung der über zwei Augen empfangenen und dementsprechend unterschiedlichen visuellen Daten, wurde das Stereoskop erfunden, dem der nächste Abschnitt meiner Einleitung gewidmet ist.

Zuvor sei noch angemerkt, dass zwischen Raumsehen und Raumwahrnehmung ein Unterschied besteht: Bei der Raumwahrnehmung spielen auch andere Sinnesorgane und vor allem unsere Erfahrung mit. Unter den vielen Faktoren, die eine Raumwahrnehmung ermöglichen, spielt die Bewegung eine zentrale Rolle, nicht nur unsere Bewegung im Raum, sondern auch die unseres Kopfes und vor allem unserer Augäpfel, die in einer ständigen Abfolge auf verschiedene Punkte im Umraum fokussieren. Dabei wird permanent akkommodiert, dh. scharf gestellt und beim beidäugigen Sehen auch konvergiert – dh. die Stellung der Augen zueinander wird an die Entfernung des fokussierten Punktes angepasst. Die konkrete räumliche Wahrnehmung entsteht dann im Gehirn, das aufgrund von Erfahrung auch den Ausfall eines Auges zu kompensieren vermag. Raumsehen mittels stereoskopischer Bilder kann man allerdings nur mit zwei Augen, die eine annähernd gleich starke oder durch optische Brillen korrigierte Sehkraft haben.


4. Das Stereoskop

Charles Wheatstone (1802–1875), ein britischer Professor für experimentelle Naturwissenschaften, stellte 1838 das von ihm entwickelte Stereoskop erstmals öffentlich vor, etwa sechs Monate bevor die Fotografie von Louis Jacques Mandé Daguerre das erste Mal präsentiert wurde. Die Stereoskopie und Fotografie wurden unabhängig voneinander entwickelt, wobei beide Erfindungen teilweise auf bereits seit langem bekanntem Wissen bzw. Praxen beruhten – und beide auf ein Simulakrum der Wirklichkeit zielten: die Fotografie auf ihre objektive Aufzeichnung und die Stereoskopie auf eine Simulation des Vorgangs ihrer räumlichen Erfassung durch den Augensinn.

Die Stereoskopie und die durch sie beförderten wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Physiologie führten zu einem entscheidenden Wandel in der Auffassung von der Natur des Sehens, konkret vom Zusammenspiel der von außen empfangenen optischen Reize und ihrer Verarbeitung durch Sinnesorgane und Gehirn. Dass es sich dabei um keinen rein physikalischen Projektionsprozess handelt, bei dem alle Eindrücke von den empfangenen Sinnesdaten abhängen, sondern die Verarbeitungsprozesse der Nerven eine gewichtige Rolle spielen, hat man bereits vorher angenommen. Aber erst durch die Forschung mit bzw. nach der Stereoskopie wurde deutlich, wie stark unsere Eindrücke von den kognitiven – und wie wenig von optischen – Voraussetzungen abhängen.

CHARLES WHEATSTONE, Stereoskop, Skizze aus ›Contributions to the physiology of vision‹, 1838

Wheatstones Zeichnung zeigt seine Vorrichtung, wo zwei im rechten Winkel zueinander aufgestellte Bilder (dargestellt mitsamt den damals üblichen breiten Holzrahmen) mittels Spiegeln so reflektiert werden, dass sie unabhängig voneinander für die Augen sichtbar sind. Der Blick der beiden Augen wurde also zunächst getrennt - und aus einer bestimmten Entfernung und mit etwas Übung verbanden sich dann die beiden Sehbild-Simulakren und ein Stereobild wurde sichtbar. In der Notwenigkeit dieser Einübung sah Hermann von Helmholtz übrigens einen Beweis dafür, dass die Raumwahrnehmung ein erlerntes Vermögen ist. (Man muss bei Wheatstones Stereoskop die beiden beim Raumsehen wichtigen Augenaktivitäten, die Konvergenz und die Akkommodation anders einsetzen als im natürlichen Sehvorgang).

CHARLES WHEATSTONE, Bilderpaar mit geometrischer Zeichnung eines Würfels (nach Wheatstone)

Die beiden dafür verwendeten Bilder sollten möglichst genau den leicht unterschiedlichen Netzhautbildern der Augen bei der Betrachtung eines Gegenstandes entsprechen. Wheatstone ermittelte erstmals den Sehwinkel bzw. die geometrischen Unterschiede zwischen den zwei Sehbildern, die entsprechend unserem Augenabstand durch eine Verschiebung des Blickpunktes um etwa 6 cm in horizontaler Richtung entstehen. Mit seinen Zeichnungen von einfachen geometrischen Körpern entstanden die ersten stereoskopischen Bildpaare der Geschichte.

Wenn Sie dasselbe Bilderpaar in digitaler Stereo-Aufbereitung und durch Polarisationsbrillen betrachten, wird damit in etwa derselbe Effekt wie in beim Blick durch ein Stereoskop erreicht. Die Polarisationsbrillen, wie sie auch bei der Vorführung von 3D-Kinofilmen zur Anwendung kommen, haben links und rechts verschiedene Filter eingesetzt, die die Lichtwellen entsprechend ihrer Wellenausrichtung unterschiedlich absorbieren. Beim projizierten Bild – eine digitale Bearbeitung des vorhin gezeigten Würfelpaares –, das nur bei der Vorführung im Hörsaal gezeigt werden konnte (und in diesem Resümee fehlt!), wurden die beiden jeweils nur für ein Auge bestimmten Bilder übereinander geblendet. Bei der Betrachtung durch diese Filter werden sie optisch wieder getrennt; somit sehen das linke und das rechte Auge nur das jeweils für sie bestimmte Bild. Die Überblendung der beiden Teile stereoskopischer Bilderpaare zu einem Bild, das aus Scans der historischen Stereokarten von einer Software erstellt wird, ist bei komplexeren Darstellungen ohne Brille praktisch unleserlich.

Die Vereinigung der beiden Bilder in eines hat nicht nur Platzgründe, sondern gewährleistet vor allem, dass die beiden Seheindrücke gleichzeitig aufgenommen werden, was zum Beispiel die Projektion von 3D-Filmen erst praktikabel macht. Die vielen Möglichkeiten zur Herstellung und Vermittlung von Stereo-Bildern, wie Anaglyphen und die verschiedenen Betrachtungsbrillen und -methoden, werde ich hier nicht näher behandeln.

Ich möchte lediglich anmerken, dass es relativ aufwendig ist, aus den analogen Bildpaaren aus dem 19. Jahrhundert, die für die Einzelbetrachtung mittels entsprechender Betrachter hergestellt wurden, eine digitale Projektion für ein Vortragspublikum zu erstellen. Zum Beispiel funktionieren verschiedene Bilder, die im alten Stereoskop wunderbar aussehen, in der hier notwendigen Vergrößerung nicht optimal. Bei unserer Reise durch historische Bildräume im Rahmen der Projektion bei der Vorlesung sollte man sich diesen medientechnologischen Transfer immer bewusst halten.


5. Historische Stereobetrachtung

Zurück zur Geschichte, konkret den historischen Geräten zur Stereobetrachtung. Der erste kommerziell erfolgreiche Stereobetrachter wurde 1849 für Daguerreotypien entwickelt, von Sir David Brewster, einem schottischen Physiker, der auch die ersten Doppelobjektiv-Stereokameras sowie übrigens auch das Kaleidoskop erfunden hat.

Sein Prismen- oder Refraktionsstereoskop wurde ab der Jahrhundertmitte in Serie produziert und ermöglichte erst die fruchtbare Verbindung von Stereoskopie und Fotografie, und damit den ersten Höhepunkt der Stereofotografie, dem sich unser Vortrag widmet. Es war im Unterschied zu Wheatstones raumgreifender Apparatur handlich und ermöglichte einen direkten Blick auf das Bilderpaar. Um störenden Lichteinfall zu vermeiden, musste es unmittelbar vor die Augen gehalten werden – so ähnlich wie ein Opernglas. Dieser Blick in einen dunklen Kasten, den man nur allein tun konnte, und wo es dann etwas Wunderbares zu sehen gab, war für die Zeitgenossen um 1850 nicht so außergewöhnlich wie vielleicht für uns. Denn um 1850 war ja Vielen die Fotografie in Form von Daguerreotypien vertraut, jenen relativ kleinformatigen, feingezeichneten Unikataufnahmen, die nur unter dem richtigen Lichteinfall angeschaut werden konnten und daher immer nur in Einzelbetrachtung.

DAVID BREWSTER, Brewster Stereoscope, 1849, Grafik des Gerätes mit eingelegtem Bildpaar (aus einer Zeitungsannonce)

Im übrigen gab es im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe von Bildbetrachtungsvorrichtungen, die gegenüber unseren überwiegend screen-basierten Visualisierungspraktiken oder auch dem Besuch einer Ausstellung, relativ umständlich anmuten, wie Dioramen, Phenakisti-skope oder eben Kaleido-skope. Diese vielfältigen historischen Verfahren wurden im Rahmen der relativ jungen geisteswissenschaftlichen Disziplin der Visual Culture Studies ausführlich erforscht und kontrovers interpretiert. Dabei entwickelten sich beispielsweise Denkmodelle, in denen die Zentralperspektive bzw. die Camera Obscura als Modell einer körperlosen, quasi-objektiven Betrachtung dem Stereoskop als körperlichem, subjektiven Bilderfahrungsmodell gegenübergestellt wurde. Ich lasse jetzt nur die Namen Jonathan Crary, Linda Williams und Linda Hentschel fallen und werde hier auf eine detaillierte Besprechung dieser Diskurse verzichten – zumal es mir wichtig scheint, vor solchen Diskussionen die Bilderfahrung selbst gemacht zu haben.

Brewster Stereoscope, französisches Modell Unis France, c. 1918 (Lichtklappe geschlossen)

Ein Betrachter aus französischer Produktion nach dem ersten Weltkrieg zeigt, wie lange sich das Brewster-Modell halten konnte. Im 19. Jahrhunderts wurden diese Viewer mit der zunehmenden Vermarktung allerdings nicht so schlicht, sondern in den vielfältigsten Ausstattungen und Schmuckvarianten mit Perlmutter, Leder und Papier machée ausgeführt. Indem der hübsche Betrachter als Konsumfetisch vermarktbar war, wurde die optische Illusion selbst zur Ware. Die Konstruktion als verkleidetes Kästchen verbirgt den Mechanismus und ursprünglich wissenschaftlichen Zweck des Gerätes, eine Transformation, in der man (mit J. Crary) ein Symptom für den ›phantasmagorischen‹ Charakter der Stereoskopie sah.

Brewster Stereoscope, französisches Modell Unis France, c. 1918 (Lichtklappe geöffnet)

Der Erfolg des Brewster-Viewers lag auch darin, dass er sich sowohl für Stereodaguerreotypien, Stereo-Glasdias und Stereokarten eignet – je nach Bedarf konnte man die Klappe an der Oberseite zur Lichtzufuhr öffnen oder geschlossen halten. Entscheidend sind auch die Okulare, mit denen man die Schärfe einstellen konnte, was für das Funktionieren des Stereoeffektes unabdingbar ist.

Beide neuen Erfindungen, das stereoskopische Betrachtungsmodell und die dafür produzierten fotografischen Bilder, erlebten in dieser Verbindung eine solche Popularität, dass man von einem Massenmedium sprechen kann, für das die neuen Produktionsmethoden, Publikationswege wie Marktmechanismen der Epoche eingesetzt wurden. Der Begriff eines Massenmediums meint in diesem Kontext aber etwas anderes als im 20. Jahrhundert, wo sich Tageszeitungen, Radio, Fernsehen oder Internet unaufhaltsam bei allen Bevölkerungsschichten durchsetzten. Die Stereoskop-Manie nach der Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste dagegen primär bürgerliche Kreise. Sie wurde zunächst in Großbritannien ausgelöst, wo Brewster sein Stereoskop auf der Londoner Weltausstellung 1851 der begeisterten Queen Victoria vorführte, und es wurde damit zu einem Konsumartikel, der auch den Fortschritt Englands repräsentierte. In wenigen Jahren (1856) waren in London bereits 500.000 Exemplare verkauft.

Die Durchsetzung des Brewster Betrachters führte überdies zu einer Standardisierung der fotografischen Bildformate und beförderte damit auch die Produktionsverfahren der Stereofotografie, wobei französische Produzenten eine wichtige Rolle spielten (die ersten Stereo-Daguerreotypien wurden in Frankreich hergestellt). Von England und Frankreich aus verbreitete sich die Stereoskopie rasant bis in die USA, wo schließlich die auflagenstärkste Produktion von Stereobildkarten durch eine Vielzahl Fotografen und v.a. von Verlagen wie Underwood & Underwood oder der Keystone View Company einsetzte. Ein amerikanischer Fotohistoriker zählte 5 Millionen Motive, die bis zur Jahrhundertwende im Umlauf waren; über 6.000 Stereofotografen in den USA und 1.800 in Europa. Übrigens gibt es für amerikanische Stereokarten auch einen prosperierenden Sammlermarkt, und man kann sich im Internet durch zahlreiche Bild-Datenbanken mit historischen Stereomotiven auf den Websites von Händlern, Bibliotheken wie Museen klicken.

Holmes Stereoscope, 1861

Einen handlichen Betrachter entwickelte Oliver Wendell Holmes, ein Arzt und Schriftsteller aus Boston und leidenschaftlicher Sammler stereoskopischer Bilder, über die er auch Aufsätze schrieb und zahlreiche Vorträge hielt, die erst kürzlich neu ins Deutsche übersetzt wurden. Sein Betrachter, der sich unter der Bezeichnung ›amerikanisches Stereoskop‹ ab den 1860ern durchsetzte, war kostengünstiger als der Brewster und eignet sich sehr gut für Stereokarten.

Kaiserpanorama, 1880

Ein weiteres Modell eines Betrachtungsgerätes ist das sogenannte Kaiserpanorama, das Sie hier in einer Reklameabbildung aus dem Jahr der Inbetriebnahme 1880 sehen. Das Kaiserpanorama repräsentiert für den westeuropäischen Raum den letzten Höhepunkt der stereoskopischen Betrachtung im 19. Jahrhundert, und es gilt als einer der Vorläufer des Kinos bzw. wird sein Verschwinden auch auf das Aufkommen der Lichtspieltheater zurückgeführt.

Im Kaiserpanorama können stereoskopische Bilder von 25 Zuschauern betrachtet werden, was auch für Schulklassen genutzt wurde. Die Bilder wechseln reihum, das heißt jede Besucherin und jeder Besucher sieht jeweils das Bild, das davor gerade die Person daneben gesehen hat.

Kaiserpanorama im Wiener Prater

Der Gründer und Betreiber des Kaiserpanoramas, August Fuhrmann, vermietete etwa 250 dieser Panoramen an Etablissements in viele europäische, vor allem deutschsprachige Städte. Hier sehen sie eine Aufnahme aus dem Wiener Prater. Fuhrmann ließ auch die Bildserien produzieren, mit durchscheinenden Farben kolorieren und verlieh diese in einem Ringsystem. Eine Serie enthielt 50 Stereo-Glas-Diapositive und war von handgeschriebenen Titel-Kartons begleitet, die in kleinen Fenstern oberhalb gezeigt wurden; einen weiteren Kommentar gab es nicht, da ja zur selben Zeit an jedem Platz ein anderes Bild gezeigt wurde. Nach einem Klingelton wechselten die Bilder. Für unseren Zusammenhang ist erwähnenswert, dass es sich dabei häufig um Reisefotografie handelte. Fuhrmanns Slogan lautete ›Die Welt mit der Welt bekannt machen!‹ Man konnte im Programm lesen, welche Destination an einem bestimmten Tag gespielt wurde und dann entscheiden, ob man etwa die Indien- oder Palästina-Vorstellung besucht.

PIERRE GAUDIN, Stereokarte mit zwei kolorierten Albuminabzügen, c. 9 x 18 cm, 1860. Courtesy: Albertina Wien

Diese Darstellung führt uns die Gebrauchsweisen der Stereoskopie in Stereo vor Augen und soll nach dem Spezialfall des Kaiserpanoramas daran erinnern, dass diese Bilder vor allem im privaten Raum rezipiert wurden. Die Stereoskopie ist nach der Lithographie und dem Buchdruck eine der maßgeblichen Formen der massenweisen bildlichen Aneignung von Welt im Privaten und in dieser Hinsicht eine Vorläuferin der illustrierten Zeitschriften.


6. Genres und Techniken der Stereofotografie

Im bürgerlichen Porträt, wo die Daguerreotypie seit ihrem Aufkommen am erfolgreichsten war, wurden auch Stereoaufnahmen angefertigt, wobei sich für Stereo-Effekte besonders die ausladenden Damengarderoben anboten, oder auch Gruppenporträts mit mehreren, naturgemäß räumlich verteilten Personen, die in stereografisch wirksame Konstellationen gebracht werden konnten. Ich möchte an dieser Stelle aber Beispiele aus zwei Gattungen der frühen Stereofotografie zeigen, in denen zwar quantitativ weniger produziert wurde als in Porträt und Reisefotografie, anhand derer aber bestimmte Merkmale der stereografischen Bildgestaltung bzw. des stereoskopischen Betrachtungssettings ganz besonders deutlich werden: Akt und Stillleben.

ANONYM (LOUIS JULES DUBOSCQ-SOLEIL ?), Bordellszene, Stereodaguerreotypie, ca. 9 x 18 cm, Frankreich, ca. 1850. Courtesy: Fotosammlung OstLicht, Inv.-Nr. 57-03299 [Alle Bildbeschreibungen beziehen sich auf die Stereobilder, wie sie in der Projektion mittels Brillen zu betrachten waren, nicht auf die hier wiedergegeben fotografischen Bildpaare bzw. Objekte!]

In der Aktfotografie konnte die Stereoskopie im Hervorheben von plastischer Körperlichkeit ihre Reize in besonderer Weise zur Geltung bringen, also quasi greifbare Sinnlichkeit darbieten. Demgemäß bezeichnete Charles Baudelaire (1821–1867) das stereoskopische Betrachtungsmodell schon früh als per se obszön, und beschrieb dessen Möglichkeit zum scheinbar körperlichen Eindringen in den Bildraum, sowie das Spähen durch zwei kleine Öffnungen in einen nur in der individuell und einzeln erfahrbaren, quasi geheimen Bildraum bzw. -körper. Akt-Stereodaguerreotypien wurden vor allem in Frankreich produziert, und auch unser Beispiel stammt von einem französischen Daguerreotypisten (Aktaufnahmen waren damals mit strengen Strafen für Fotografen, Modell und Händler belegt und wurden daher selten signiert). Die Kolorierung ist heute nur noch am Teppich deutlich sichtbar und war bei Aktaufnahmen eine gängige Praxis, um einen subtilen Fleischton zu erreichen. Typisch für erotisch konnotierte Aktaufnahmen der Zeit ist der Schmuck, besonders das Diadem, das ursprünglich stärker farbig akzentuiert war. Auch das scheinbar in Unordnung geratene Kleid der Frau links, das freilich sorgfältig drapiert wurde, ist ein Topos erotischer Aktdarstellung.

Der Fotograf hat die drei Damen aufwändig in Szene gesetzt, mit einem Spiegel am rechten Bildrand, der eine Rückenansicht der mittleren Frontalfigur wiedergibt, und mit Sitzgelegenheiten, durch welche die Positionen ihrer Körper präzise abgestimmt wurden. Dabei wurde den Modellen kaum Raum für selbstbestimmte Posen zugestanden. In unserem Zusammenhang ist bemerkenswert, wie der Fotograf gerade diese Zu- und Ausrichtung der Körper an die Bedingungen stereoskopischer Betrachtung anpasste, wofür er die Frauen in einer Weise arrangierte, die er in einem Setting für ein monoskopisches Bild so nicht gewählt hätte. Die Rückenfigur mit zum Kinn geführter Hand und die auffällige Verschränkung der Figuren erinnert an die wohl berühmteste Bordellszene der Kunstgeschichte, an ›Les Demoiselles d’Avignon‹ von Pablo Picasso. Dieses berühmte kubistische Gemälde ist etwa 60 Jahre nach unserem Gruppenbild entstanden und die Ähnlichkeit ist höchstwahrscheinlich ein Zufall. Sie hat aber damit zu tun, dass beide Bilder eine Raumwiedergabe anstreben, die abseits zentralperspektivischer Projektion funktioniert bzw. sich bewusst davon absetzt. Typisch für den stereoskopischen Bildraum ist beispielsweise seine spezifische Heterogenität, eine Aufsplitterung in Zonen und Schichten, die sich formal durchaus mit dem Kubismus vergleichen lässt (dies ist visuell freilich besser in der hier nicht reproduzierbaren Stereobetrachtung nachvollziehbar). Für das Motiv von drei Frauen, die ihre körperlichen Vorzüge posierend zur Beurteilung anbieten, gibt es ein sehr traditionelles Muster, nämlich das ›Urteil des Paris‹. Die bei diesem ikonografischen Vorbild vorhandenen männlichen Betrachter muss man sich in unserem Fall hinter dem Stereoskop vorstellen, in das sie wie in einer Peepshow spähen.

Das sorgfältige Arrangement eines zur eingehenden Betrachtung vorbereiteten Szenarios entspricht auch dem Genre des Stilllebens. Thomas Richard Williams (1824–1871) war einer der ersten britischen Fotografen, der im Stereo-Bereich reüssieren konnte. Er arbeitete auch mit Monoobjektiv-Kameras und war ein gesuchter Porträtist der britischen Aristokratie. In Stereo-Daguerreotypien dokumentierte er 1851 die Architektur und Produkt-Displays der Londoner Weltausstellung, von wo ja der Boom der Stereoskopie in England ihren Ausgang nahm. Am 31. Juli 1855 fotografierte Williams das Auslaufen des Kriegsschiffes Marlborough von Portsmouth. Diese Bilder wurden von seinen Zeitgenossen als die ersten Momentaufnahmen der Geschichte gepriesen.

   

THOMAS RICHARD WILLIAMS, Scenes in our Larder, Stereodaguerreotypie, ca. 9 x 18 cm (Ausschnitt aus dem Objekt und anaglyphische Darstellung), Frankreich, ca. 1850. Courtesy: Fotosammlung OstLicht, Inv.-Nr. 57-02802

Aber die ästhetischen Möglichkeiten der Stereodaguerreotypie hat Williams auch in seinen Stillleben ausgelotet, denn hier ermöglicht die genaue Positionierung der Objekte ein besonders wirksames Hervortreten der Stereo-Effekte, in der Hinsicht vergleichbar mit dem Gruppenakt vorhin. In seinen Bildkonzepten orientierte er sich an der Trompe-l’œil-Malerei des 17. Jahrhunderts, und jetzt wissen Sie auch, warum ich für den Anfang meines Vortrags dieses Stillleben mit dem Hasen ausgewählt habe. Für Williams war die Referenz auf die historische Malerei eine legitimatorische Entscheidung, um seine Fotografien bewusst in Bezug zur akademischen Kunst zu stellen. Allerdings hat er seine motivischen Vorbilder ganz spezifisch an die Erfordernisse der Stereoskopie angepasst.

So wäre zum Beispiel der Effekt des Sfumato, mit dem gemalte Gegenstände mit dem Hintergrund verschmelzen, dem Stereo-Effekt eher abträglich. Stattdessen ist es in der Stereofotografie wichtig, die Objekte möglichst scharf abgegrenzt aufzunehmen, damit sie sich deutlich vom Hintergrund abheben können; deshalb hat Williams seine Objekte so angeordnet, dass ihre Umrisse möglichst nicht durch Überschneidungen oder Schatten verwischt werden. Im Gegensatz zu monoskopischen Bildern spielt die Verkürzung in Stereo-Bildern eine untergeordnete Rolle; für den Raumeffekt sind in die Tiefe gestaffelte Gegenstände in Stereobildern wirkungsvoller als konvergierende Fluchtlinien.

Williams nutzte für den Stereoeffekt seiner Fotografien auch Repoussoire-Motive, die sich vom Bildrand im Vordergrund ins Bild schieben und den Raum im vermittelten Durchblick freigeben. Bei der unglaublichen Schärfe seiner Aufnahmen konnte er sich auch Scherze leisten, wie etwa einen handgeschriebenen Zettel mit seiner Signatur, den er etwas oberhalb der Hasenläufe einbaute.

Die Position von Williams ist auch im Zusammenhang mit dem Vertrieb der Stereofotografien interessant. Obwohl sich die Daguerreotypie als Unikatverfahren ja nicht zur Vervielfältigung eignet, wurden Williams’ Aufnahmen von der London Stereoscopic Company bereits im Jahr 1856 in einem Katalog angeboten und Williams produzierte – natürlich in einer sehr geringen Auflage – die Motive mehrfach, indem er mehrere silberbeschichtete Platten belichtete, teilweise in verschiedenen Abweichungen, die übrigens damals wie heute gesuchte Sammlerstücke sind. Später wurden seine Daguerreotypien mittels Inter-Glasnegativ reproduziert und als Albumin-Stereokarten aufgelegt.

Erst mit der Durchsetzung des Positiv-Negativ-Verfahrens konnte also eine noch weitere Verbreitung der Stereofotografie beginnen. Die wichtigsten Voraussetzungen dafür wurden alle um 1850 eingeführt: zum einen die Kollodium-(Nass-)Glasplatte (Frederick Scott Archer, Gustave LeGray), von der vielfach Abzüge hergestellt werden konnten und die in Relation zu den früheren Papiernegativen eine größere Schärfe ermöglichte; zum anderen das Albuminpapier (Louis Désiré Blanquart-Evrard), mit dem sehr detailreiche, warmtonige und kostengünstige Positivprints belichtet werden konnten. Ab der Jahrhundertwende lösten dann Silbergelatineabzüge die Albumine ab – auch diese Prints wurden zunächst noch auf die Kartons mit dem Standardformat 9 x 18 cm und diversen Logo- und Textaufdrucken geklebt; etwas später wurden die Bildpaare dann direkt auf Barytpapier geprintet.

Die weitaus überwiegende Anzahl an stereofotografischen Bildern entstand als sogenannte Reisefotografie. Diese umfasste die Genres der Landschafts- und Architekturdarstellung, inklusive von Personenaufnahmen in diesem Kontext, also Vorläufern der späteren Reisereportage. Stereokarten waren in der 2. Jahrhunderthälfte das Bildmedium, mit dem man sich bequem im privaten Wohnzimmer sitzend, die gesamte Welt vor Augen führen konnte, so oft und so eingehend wie man wollte. Die stereoskopische Fotografie bzw. die durch sie dargebotene halluzinatorische Realität lädt in besonderer Weise dazu ein, diese Raumerfahrung als Aneignung zu erleben. Aus diesem Grund wurden die Felder der Geografie und Topografie zu zentralen Anwendungsgebieten. Die BetrachterInnen wurden dabei zu Eroberern, Forschern, Sammlern oder zumindest informierten BürgerInnen, und die heutige Medienwissenschaft spricht von einem ›stereoskopischen Imperialismus des Auges‹ (Ulrike Hick).

Bereits im 19. Jahrhundert wurden die Eigenschaften und Implikationen der Stereofotografie reflektiert, etwa vom Mediziner und Schriftsteller Oliver Wendell Holmes, der 1861 dieses praktische amerikanische Stereoskop entwickelt hat, das man einhändig halten kann. Mit der gleichermaßen leidenschaftlichen Ausübung seiner zwei Professionen, der Wissenschaft und der Literatur, vereinte Holmes einen ideellen Widerspruch – und dasselbe könnte man auch über seine Auseinandersetzung mit Fotografie und Stereoskopie sagen: Seine Schriften über die Stereofotografie zeugen davon, dass der phantasmagorische Charakter des stereoskopischen Bildes ihn nicht davon abhielt, in diesem Betrachtungsmodus auch die indexikalischen Qualitäten der Fotografie zu sehen. Er vermochte in jeder Aufnahme Spuren von Wirklichkeit zu entdecken, die ihm als Phänomenologen Indizien für vielfältige Betrachtungen und Bezüge lieferten. So stellt Holmes beispielsweise fest, dass sich ein stereoskopisches Bildpaar im Unterschied zur monoskopischen Fotografie viel schwerer retuschieren ließe und also dem abgebildeten Gegenstand schon aufgrund dessen enger verpflichtet sei als beispielsweise ein Studioporträt. Seinen Aufsatz ›Sun-Painting and Sun-Sculpture‹ (1861) baute Holmes wie eine Reise auf, und er betont darin, dass sich die Stereo-Fotografie besonders in der Wiedergabe von Orten unvergleichlich auf unsere Vorstellungskraft auswirke; sie erzeuge eine hypnotische Wirkung, in der wir körperlich durch die Szenarios zu schweben meinen, denn das Bild erscheine in einer natürlichen Größe. Indem Holmes die Verbindung von Fotografie und Stereoskopie mit uneingeschränkter Begeisterung propagiert, nimmt er eine Gegenposition zu Charles Baudelaire ein, der gegen gestellte Aufnahmen, Tableaux vivants und die naturtreue Detailversessenheit der Fotografie genauso polemisierte, wie gegen die Trugbilder der Stereoskopie.

Die zunehmend als Massenware produzierten Stereokarten wurden relativ bald in Serien vertrieben – zunächst wurden diese von den Fotografen selbst aufgelegt, die an einem bestimmten Ort ansässig oder aktiv waren; zunehmend wurden die Stereoserien dann auf Karten mit typografischen Aufdrucken kaschiert. So konnte man auf den seitlichen Rändern meist links die Firmenadresse und rechts den Serientitel lesen, wie beispielsweise ›Chicago and Vicinity‹, Wandering amoung the Wonders and Beauties of Wisconsin Scenery‹, oder ›Reise um die Erde‹; unterhalb des Bildpaares fanden sich dann meist Bildtitel und -nummer. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Serien immer häufiger von großen Vertriebsfirmen zusammengestellt und die Fotografen kaum mehr namentlich genannt.

Dass die Stereofotografie gerade in Veduten fremder, für die BetrachterInnen oft nicht erreichbarer Länder ihre breiteste Produktion und Vermarktung erfuhr, mag auch ökonomische Gründe haben: so finden beispielsweise die Ägyptischen Pyramiden als Bildmotiv weitaus nachhaltiger Absatz als ein Porträt einer beliebigen Familie oder die Darstellung einer Szene, die ohne erklärenden Text nicht verständlich ist. Wobei ich mit der Bemerkung schließen möchte, dass allerdings auch die Darstellung des Fremden eine erklärungsbedürftige Angelegenheit ist, jedoch existieren dafür meistens eine Reihe von Vorstellungen – ›Stereotypen‹, wie sie sich etwa in einem festgeschriebenen Kanon von Sehenswürdigkeiten zeigen –, die lange vor der Bildbetrachtung erworben wurden und das Bedürfnis nach einem bestätigenden Bild noch zusätzlich anregen.


Lit.: William C. Darrah, The World of Stereographs, Gettysburg, Pennsylvania 1977; Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Basel/Dresden 1996, bes. S. 122–140; Ulrike Hick, Geschichte der optischen Medien, München 1999; Linda Hentschel, Pornotopische Techniken des Betrachters. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg 2001, bes. S. 85–91 und 105–108; Linda Williams, Pornographische Bilder und die ›Körperliche Dichte des Sehens›, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2003, S. 226–266; Bernd Stiegler, Die Zeichen der Natur erkennen: Johannes Müller, Hermann von Helmholtz und die glückliche Verbindung von Stereoskopie und Physiologie, in: Ders., Theoriegeschichte der Fotografie, München 2006, S. 72–85; Jens Schröter, 3D. Zur Geschichte, Theorie und Medienästhetik des technisch-transplanen Bildes, München 2009; Oliver Wendell Holmes, Spiegel mit einem Gedächtnis. Essays zur Photographie, hg. v. Michael C. Frank und Bernd Stiegler, München 2011; Dieter Lorenz, Fotografie und Raum. Beiträge zur Geschichte der Stereoskopie, Münster 2012; Denis Pellerin, Geschichte der Aktfotografie in Stereo-Daguerreotypien, Collection T. + W. Bosshart, London: Bea & Poly 2020