Cora Pongracz: Österreichische Avantgarde der 1970er

Werkverzeichnis, Saal- und Pressetexte zur Ausstellung im OstLicht. Galerie für Fotografie, Wien, 2.10.–21.11.2015; Editionskonzept: Peter Coeln; Hängeplan: Rebekka Reuter https://www.ostlicht.org/en/exhibitions/austrian-avant-garde-of-the-1970s-cora-pongracz

Ausstellungsplakat Cora Pongracz, Porträt von Friedensreich Hundertwasser, Venedig 1970

Hundertwasser in der Hängematte, Otto Muehl in Aktion, Arnulf Rainer beim Grimassieren, H.C. Artmann im Hawelka, Ernst Jandl am Schreibtisch oder Franz West beim Heurigen – wer in den 1970er Jahren von Cora Pongracz aufgenommen wurde, gehört in vielen Fällen heute zum Who’s who der österreichischen Kunst und Literatur. Die 1943 geborene Fotografin war nicht nur eine der wichtigsten Chronistinnen der Epoche, sondern gehörte den Avantgarde-Zirkeln der Zeit auch selbst an. Neben Porträts und der Dokumentation von Aktionen schuf sie konzeptuelle Werkserien, in denen sie ihre Rolle als Bildautorin sowie die Wahrnehmung von Fotografie reflektierte. In Pongracz’ Auseinandersetzung mit der Personen-Repräsentation zeigt sich die vorausweisende Qualität ihrer Arbeit, indem sie Aspekte aufgreift, die die Diskurse der Kunst noch lange prägen sollten: Identität und Performativität.

Der Ausgangspunkt dieser Fragestellungen war zunächst eine professionelle Ausbildung in Deutschland, wo sie auch erste Erfahrungen im Bildjournalismus sammeln und sich mit den Konventionen fotografischer Autorschaft sowie dem Kanon an gefragten Bild-Genres vertraut machen konnte. Die Aufbruchsstimmung der Sechziger erlebte Pongracz in München und London. Revolutionäre Ideen, wie etwa jene der Anti-Psychiatrie-Bewegung, verfolgte sie aus nächster Nähe, was ihren Blick für die Motivationen der künstlerischen Avantgarde auch in Österreich schärfte. Als sie im Herbst 1968 nach Wien zurückkehrte, in die Stadt ihrer späteren Kindheit und frühen Jugend, eröffnete ihr die Verbindung mit Reinhard Priessnitz den Zugang zu den Kreisen der lokalen Kunst- und Literaturszene.

Der Nachlass von Cora Pongracz wurde Anfang 2015, zwölf Jahre nach ihrem Tod, von der Fotosammlung OstLicht erworben. Da weder ein Werkverzeichnis noch eine aussagekräftige Bio- oder Bibliografie vorlagen, waren Ordnung und Katalogisierung des Materials aufwändig. Noch vor der Fertigstellung einer umfassenden Publikation zum Gesamtwerk, die 2016 bei Schlebrügge.editor erscheint, zeigt die Fotogalerie OstLicht nun 120 Motive aus der fruchtbarsten Schaffensperiode der faszinierenden Künstlerin. Das Ausstellungsset aus analog produzierten Silbergelatineabzügen von den Originalnegativen ist Teil einer knapp limitierten Edition.


Exponate (Auswahl)

CORA PONGRACZ, Otto Muehl, Aktion ›Apollo 11, Vaginaaktion‹, Wien, Praterstraße, Frühling 1969. Silbergelatineprint 2015, 45 x 30 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #18, Kat. S. 78)

Nach Pongracz’ Ankunft in Wien war einer ihrer ersten Aufträge eine Dokumentation für Otto Muehl (1925–2013), den ältesten der vier Wiener Aktionisten. Dieser führte seit 1963 Materialaktionen durch, wobei ihm neben Farbmassen und Lebensmitteln auch der (meist weibliche) Körper als Material galt. ›Apollo 11, Vaginaaktion‹ fand in Muehls Atelierwohnung statt, in der er bald darauf seine Kommune gründete. Anwesend waren rund 10 Personen – hier im Bild etwa der spätere Psychoanalytiker Franz Kaltenbeck (1944–2018) in einer Wanne und links kniend der langjährige Kommunarde Herbert Stumpfl; Hans Scheugl und Jörg Dobrovich (Spermint) drehten Filmaufnahmen.

CORA PONGRACZ, Otto Muehl, ›Aktion im Freudenauer Wasser – Masochistische Reiteraktion‹, Wien, Lobau, Sommer 1969. Silbergelatineprint 50 x 50 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #8, Kat. S. 81)

Otto Muehl (hier nicht im Bild), Doris Heinrich und Malte Olschewski, Redakteur der Tageszeitung Die Presse und im Jahr davor Teilnehmer an der legendären ›Uniferkelei‹, agieren nackt in den Donau-Auen, neben Pongracz dokumentierten Kurt Kren und Ernst Schmidt jr. filmisch. Im weiterem Verlauf reitet die weibliche Akteurin auf dem mit Kopfgeschirr gezügelten Olschewski durch Schlamm und Schilf. Aus psychodramatischen Performances mit sexueller Dynamik wie dieser entwickelte Muehl die Aktionsanalyse für seine spätere Kommune, in der er sich selbst als Therapeut verstand.

CORA PONGRACZ, Arnulf Rainer, Retzhof, Leibnitz, 1969. Silbergelatineprint 30 x 45 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #34, Kat. S. 84)

Cora Pongracz traf auf Arnulf Rainer, als dieser sich mit Physiognomik und performativer Selbstinszenierung auseinandersetzte. In Sofortbild-Automaten hatte er verschiedene Ausdrucksqualitäten von Grimassen dokumentiert, die er teils übermalte (›Face-Farces‹). Dieselben Posen mimischer Entstellung nahm er auch für Pongracz’ Aufnahmen ein. Indem Arnulf Rainer hier die Aufzeichnung der Fotografin überträgt, erfolgt ein wichtiger Schritt zur nächsten Etappe in seinem fotografischen Werk, den performativen ›Fotoséancen‹ im Studio. Für Pongracz’ eigene Arbeitsweise ist diese Zusammenarbeit insofern signifikant, als sie besonders an Wechselwirkungen und Rollenverschiebungen zwischen Autor und Modell oder zwischen Selbst und Pose im fotografischen Setting interessiert war.

CORA PONGRACZ, Otto Breicha, Franz Ringel und Walter Navratil im Cafe Girardi, Wien, Girardigasse, 1971. Silbergelatineprint, 30 x 45 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #81, Kat. S. 101)

Eine Szene in einem Kaffeehaus in der Girardigasse nahe des Naschmarkts. Im Hintergrund die beiden Maler Walter Navratil und Franz Ringel, davor steht der Grafiker Gerri Zotter, mit Blick in die Kamera sitzt Otto Breicha (1932–2003) an einer Suppe. Der Germanist und Kunsthistoriker war ein früher Förderer der Fotografie in Österreich, der auch selbst zahlreiche Porträtaufnahmen schuf. Als Museumsdirektor in Salzburg baute er ab 1980 eine nationale Fotosammlung auf. Die Aufnahme entstand im Zuge von Pongracz' Arbeit am Zyklus ›Martha Jungwirth – Franz Ringel‹, in dem sie das Lebens- und Arbeitsumfeld der beiden Kunstschaffenden umkreist, die an Breichas Ausstellung ›Wirklichkeiten‹ teilgenommen hatten.

CORA PONGRACZ, Eduard Angeli, Walter Navratil, Wolfgang Herzig, Franz Ringel, Kurt Kocherscheidt, Wien, Franzensgasse, 1971. Silbergelatineprint 40 x 60 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #75, Kat. S. 100)

Neben hölzernen Mauer-Stützplanken im Hof eines Abbruchhauses in der Franzensgasse 17 posieren Mitglieder der Künstlergruppe ›Wirklichkeiten‹. Die vom unteren Rand angeschnittenen Figuren, das Bildformat und die pittoresk-desolate Fassade ergeben ein Motiv, das sich auch für ein Plattencover eignen würde. Pongracz schuf es für ihren Fotoessay Martha Jungwirth – Franz Ringel, der als Wendebuch beiden ProtagonistInnen ein eigenes Cover und eine unabhängige Bildstrecke widmet. Die Publikation erschien 1972 anlässlich ihrer Fotoausstellung in der Wiener Secession, wo die lose Künstlergruppe vier Jahre zuvor in einer von Otto Breicha kuratierten Schau ihr Label erhalten hatte.

CORA PONGRACZ, Martha Jungwirth, Wien, 1971. Silbergelatineprint 45 x 30 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #71, Kat. S. 95)

Martha Jungwirth war die einzige Frau in der Gruppe ›Wirklichkeiten‹, die gegenüber dem damals dominierenden Informel eine gesellschaftlich relevantere, realistische Malerei proklamierte. Zum Zeitpunkt der Aufnahme arbeitete Jungwirth an Zeichnungen von hochhakigen Damenschuhen, die stilistisch der Pop Art nahestehen (und sich deutlich von der Ästhetik ihrer späteren Bilder unterscheiden). Sie trägt ebensolche Schuhe in Pongracz’ Aufnahme, in der sie einen tänzerischen Kick gen Kamera vollführt. Damit trifft sie auch das Interesse der Fotografin, die in ihren Porträts dem Wechselspiel von Bildautor und Modell nachging, um die Selbst-Repräsentation im fotografischen Setting zu thematisieren.

CORA PONGRACZ, Franz Ringel, Wien, 1971. Silbergelatineprint 40 x 60 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #84, Kat. S. 105)

Die Aufnahme entstand ebenfalls für Pongracz’ Ausstellung in der Wiener Secession und die begleitende Publikation, der von ihr so bezeichneten ›Photogeschichte‹ über Martha Jungwirth und Franz Ringel (1940–2011). Ringel studierte bis 1965 an der Akademie der bildenden Künste bei Albert Paris Gütersloh und thematisiert in seinen Gemälden vor allem unbewusste Triebe und fantastische Vorstellungen der Geschlechterbeziehungen. Pongracz’ Aufnahme zeigt ihn hier gleichsam in enger Umarmung mit einer seiner typischen Frauenfiguren; ansonsten gibt es in ihrem Essay kaum Verweise auf seine Malerei – der Bildtypus ›Künstler bei der Arbeit‹ fehlt etwa gänzlich –, während das Hauptaugenmerk auf (psycho-)sozialen und lebenskulturellen Kontexten der beiden Kunstschaffenden liegt.

CORA PONGRACZ, H.C. Artmann im Café Hawelka, Wien, Dorotheergasse, um 1971. Silbergelatineprint 45 x 30 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #95, Kat. S. 101)

Der Dichter und Übersetzer Hans Carl Artmann (1921–2000) gab seit den Nachkriegsjahren wichtige Impulse für die Avantgarde, vermittelte etwa Verfahren des Dadaismus und Surrealismus an die Wiener Gruppe oder ging neue Wege in der experimentellen Verwendung von Dialektsprache. Obwohl tief im mittleren Bildgrund sitzend und daher relativ klein wiedergegeben, zieht sein Antlitz als kontrastreichste Partie des Bildes die Aufmerksamkeit auf sich. Artmann blickt allerdings nicht in die Kamera, sondern scheint in ein Gespräch vertieft. Von den Zeitungsstapeln im Vordergrund bis zur Geschäftigkeit hinter der Bar veranschaulicht die dichte Komposition die Atmosphäre im legendären Wiener Literatencafé.

CORA PONGRACZ, Elfriede Gerstl, Wien, um 1971. Silbergelatineprint 30 x 45 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #97, Kat. S. 61)

Die bedeutende Dichterin überlebte als jüdisches Kind den Holocaust versteckt in Wien. Ihre ›durchdringend leisen Gedanken‹ (Elfriede Jelinek) publizierte sie ab Mitte der 1950er Jahre. Cora Pongracz fotografierte Elfriede Gerstl (1932–2009) für den Klappentext einer geplanten Publikation beim Rowohlt-Verlag. Das ruhige Porträt lässt bei näherer Betrachtung sprechende Facetten in der Mimik der knapp 40-jährigen erkennen. Dies zeigt auch Pongracz’ Vorliebe für transitorische Momente, in denen subtile Reaktionen wahrnehmbar werden – womit sie sich vom klassischen Studioporträt und dessen Anspruch auf wesenhafte Darstellung absetzt.

CORA PONGRACZ, Kurt Kren und Joe Berger im Club Vanilla, Wien, Hegelgasse, 1972. Silbergelatineprint 30 x 45 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #35, Kat. S. 76)

Der Filmemacher Kurt Kren (1920–1998) ist besonders für seine eigenständigen Interpretationen der Aktionen von Muehl und Brus bekannt; nach seiner Teilnahme am Happening ›Kunst und Revolution‹ wurden viele seiner Arbeiten beschlagnahmt. In den frühen 1970ern lebte er zweitweise in Deutschland, dann jahrelang den USA und zeigte seine Filme auf internationalen Festivals, während er in Österreich erst spät gebührende Würdigung erfuhr. Hier sitzt er mit dem Schauspieler und Szene-Literaten Joe Berger (1939–1991) im legendären Club Vanilla, der bis 1974 von Christiane Dertnig betrieben wurde.

CORA PONGRACZ, Gertie Fröhlich, 1972. Silbergelatineprint 45 x 30 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #73, S. 73)

Während ihres Studiums jobbte die spätere Malerin und Grafikerin Gertie Fröhlich (1930–2020) bei der ›Katholischen Aktion‹, wo Otto Mauer, der kunstbegeisterte Domprediger zu St. Stephan, ihr Chef war. Als dieser 1954 eine vakante Galerie in der Grünangergasse übernahm, wurde sie seine Assistentin. Die ›Galerie nächst St. Stephan‹ spielte fortan eine zentrale Rolle in der Vermittlung von Avantgardekunst in Wien. Nach Fröhlichs Heirat mit dem Maler Markus Prachensky wurde ihre Wohnung zu einem Treffpunkt für ProtagonistInnen wie Josef Mikl, Arnulf Rainer oder Peter Kubelka. Der Filmemacher wurde schließlich Fröhlichs neuer Partner. Als er 1964 mit Peter Konlechner das Österreichische Filmmuseum gründete, gestaltete sie mit dem Phantasiewesen Zyphius das legendäre Logo des Filmmuseums. In diesem Porträt sitzt sie rauchend vor einem von ihr gestalteten Plakat zur Ankündigung der Buñuel-Retrospektive im Jahr 1969 – das Motiv der Schafe spielt auf dessen Film ›Der Würgeengel‹ an.

CORA PONGRACZ, Gerhard Rühm, 1972. Silbergelatineprint 30 x 30 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #98, S. 65)

Angeregt durch künstlerische Verfahren der Vorkriegsavantgarde arbeitete der Komponist, bildende Künstler und Schriftsteller Gerhard Rühm (geb. 1930) im Grenzbereich vieler Disziplinen. 1954 war Mitgründer der Wiener Gruppe, gab deren Texte heraus und schrieb Grundlegendes zur Geschichte der einflussreichen österreichischen Avantgardebewegung. Vor allem seine Lautgedichte, Sprechtexte, visuelle Poesie und Fotomontagen machten ihn bekannt. Ab 1972 bekleidete er eine Professur an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und ab 1978 war er Präsident der Grazer Autorenversammlung.

CORA PONGRACZ, ›studie mit verschiedenen schärfen‹ (Reinhard Priessnitz liest in Ernst Machs ›Die Analyse der Empfindungen‹), Wien, Starkfriedgasse, 1974. Silbergelatineprint 30 x 30 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #100, S. 68f)

Diese Aufnahme ist die erste in einer mehrteiligen Serie, die die Fotografin gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Dichter, Kunstkritiker und Lektor Reinhard Priessnitz (1945–1985) erstellte. Er ist nicht nur der Lesende, der aus verschiedenen Perspektiven und in variierenden Schärfeeinstellungen aufgenommen wurde, sondern er steuerte auch den zur Fotoserie gehörigen Text bei. Einschränkungen der Apparatur sowie der Einfluss des Mediums auf die Darstellung einer Person und Situation sollen bewusst gemacht werden. Auf den Sachverhalt des Lesens – als eine in Konzentration gesteuerte Wahrnehmung – verweist die Fokussierung der Kameraoptik sowohl als Praxis im Akt des Fotografierens wie auch als visuelles Phänomen.

CORA PONGRACZ, Arnulf Rainer und Dieter Roth, ›Misch- und Trennkunst‹, Wien, Mariahilferstraße, 1974. Silbergelatineprint 30 x 45 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #40, Kat. S. 88)

Ab 1973 arbeiteten Rainer und Roth an gemeinsamer ›Misch- und Trennkunst‹, einem spontan-reaktiven Zusammenspiel, in dessen bildnerischen Ergebnissen die jeweiligen Beiträge der beiden Künstler ununterscheidbar sind. Matches von wechselseitigem Aufeinander-Reagieren übte man auch performativ, wobei die fotografischen Ergebnisse teils auch übermalt wurden. Pongracz war früh mit der Dokumentation dieser künstlerischen Kooperation beauftragt, ihre Aufnahmen wurden 1975 in zwei Wiener Ausstellungskatalogen publiziert. In späteren Jahren geriet ihre Mitarbeit in Vergessenheit.

CORA PONGRACZ, Peter Weibel, Wien, 1974. Silbergelatineprint 45 x 30 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #68, Kat. S. 74)

Der Medienkünstler und -theoretiker präsentiert sich in der ebenso subtilen wie signifikanten Inszenierung eines beiläufigen Porträts während der Arbeit. Er hält ein Lineal senkrecht vor die Knopfleiste seines diagonal gestreiften Hemdes und stellt damit einen Bezug zum physikalischen Phänomen der Lichtbrechung her, der an Arbeiten seiner Konzeptkunst erinnert: hier wie dort irritieren Grenzen und Verschiebungen zwischen verschiedenen medialen Darstellungsebenen eine unbedarfte Wahrnehmung von Realität. Die Aufnahme entstand für den Katalog zur Ausstellung Kunst aus Sprache, die 1975 im Wiener ›20er-Haus‹ – Museum des 20. Jahrhunderts stattfand.

CORA PONGRACZ, Heimrad Bäcker, Graz 1974. Silbergelatineprint 30 x 45 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #107, Kat. S. 64)

Der Schriftsteller Heimrad Bäcker (1925–2003) war Herausgeber der Zeitschrift neue texte in Linz und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der konkreten Poesie. In den Jahren 1968 bis 1985 sammelte und verarbeitete er Zeugnisse des Holocaust: ›Es genügt, die Sprache der Täter und der Opfer zu zitieren. Es genügt, bei der Sprache zu bleiben, die in den Dokumenten aufbewahrt ist. Zusammenfall von Dokument und Entsetzen, Statistik und Grauen.‹ Bäcker war als Jugendlicher der NSDAP beigetreten und hatte nach Ende des Weltkriegs im KZ Mauthausen gearbeitet – die Auseinandersetzung mit der österreichischen NS-Vergangenheit prägte sein künstlerisches Werk nachhaltig.

CORA PONGRACZ, Franz West, aus der 5-teiligen Serie der Werkgruppe ›verwechslungen. einzelphotos und serien‹, Wien, Karl-Marx-Hof, 1977. Silbergelatineprint 30 x 30 cm, Copyright: Nachlass C. Pongracz, Fotosammlung OstLicht (Edition #49, Kat. S. 119)

Der heute international renommierte Künstler (1947–2012) hatte zur Entstehungszeit der Aufnahme seine erste Ausstellung als Autodidakt und bekam erst dadurch die Möglichkeit eines Studiums der Bildhauerei bei Bruno Gironcoli. Für Pongracz’ Projekt der ›verwechslungen‹ posiert er auf einer Terrasse des Karl-Marx-Hofes mit Feigenkakteen. Zwischen Liegen und Lümmeln, teils mit geschlossenen Augen, sind seine Körperpositionen in den fünf zugehörigen Bildern Anti-Posen – das Gegenteil von Haltung, wie man sie typischerweise für ein Porträtfoto einnähme. Hier erscheint der Kaktus in unmittelbarer Nähe zu Wests Ohr, womit wohl auch auf die österreichische Bezeichnung ›Ohrwaschlkaktus‹ angespielt wird. Dabei gedeiht die Absurdität der Inszenierung doch an der Grenze zur Beiläufigkeit; der hintersinnige Witz und die unprätentiöse Umsetzung erinnern an die ›Passstücke‹ von West, materialisierten Neurosen, deren körpernahe Handhabung er mittels Fotografien – unter anderem auch von Cora Pongracz – dokumentieren ließ, während deren Bezeichnung von Reinhard Priessnitz angeregt wurde.

Biografie Cora Pongracz

geboren 1943 in der Emigration in Buenos Aires; 1948 Rückkehr der Familie nach Wien; 1958 Umzug nach Frankfurt; 1961–64 Ausbildung zur Fotografin in Frankfurt und München, Abschluss an der Bayrischen Staatslehranstalt für Photographie; 1965 Deutscher Jugendfotopreis; 1966–69 lebt in London und unternimmt ausgedehnte Reisen; ab 1967 Publikationen in dt. Tageszeitungen; ab 1968 Illustration von vier Reiseführern im Verlag J. Cape, London; ab 1968 lebt sie (wieder) in Wien; bis in die 1980er zahlreiche Ausstellungen, fünf davon in der Galerie nächst St. Stephan; drei monografische Kataloge neben Publikationsbeiträgen in Anthologien und Zeitschriften; 1974 Heirat mit Reinhard Priessnitz, 1975 Geburt des Sohnes Konrad; 1992 Aufnahme im Maimonideszentrum, wo sie weiterhin fotografiert; 2000 Österreichischer Würdigungspreis für künstlerische Fotografie; Retrospektive in der Galerie am Taxispalais, Innsbruck mit Katalog des Fotohof Salzburg; stirbt 2003 in Wien (ausführlichere Biografie in der Publikation bei Schlebrügge).

Ausstellungsansichten