Alfons Schilling, ›Chicago 1968‹, um 1969

Publiziert in: 2D23D. photography as sculpture / sculpture as photography, hg. Martin Guttmann, Rebekka Reuter, Kat. OstLicht. Galerie für Fotografie, Wien 2014, S. 83

ALFONS SCHILLING, ›Chicago 1968‹, um 1969 (Ansicht a). Linsenrasterfotografie gerahmt, 89 x 119 cm, rücks. signiert, datiert und betitelt ›The Chicago Festival‹. Courtesy: Fotosammlung OstLicht, Inv. 085-03143

Die Relativität der visuellen Wahrnehmung beschäftigte Alfons Schilling von seinen frühen ›Spin Paintings‹ (Rotationsbildern) bis zu seinen späteren Sehmaschinen und ›Autobinären Stereobildern‹. Ein für die Avantgarde seiner Generation zentraler Ausgangspunkt war die Kritik an jenem Dispositiv, wonach das rechteckige ›Flachbild‹ als zentralperspektivisch konstruierte Einheit ein Surrogat des menschlichen Seheindrucks oder ein Weltbild repräsentiert.

Nach seinem Umzug nach New York Ende 1962 gab Schilling die Malerei zunächst auf und arbeitete für verschiedene Künstler, wie John Cage oder Carolee Schneemann, sowie als Filmemacher und an Konzepten für performative Ereignisse. Etwa 1967 wandte er sich der Linsenrasterfotografie zu, auf die er bei seinen Untersuchungen zur Holografie gestoßen war – und die ihn auch zur Beschäftigung mit Stereoskopie und Vektorgrafik führen sollte. All diese Verfahren liefern Raumbilder, die über statische 2D-Repräsentation hinausgehen. Allerdings setzte Schilling diese Visualisierungstechniken anders ein, als in ihren üblichen Anwendungsbereichen, wo Darstellungen von verblüffend plastischer Wirkung letztlich darauf zielen, ein immersives ›Im-Bild-Sein‹ erfahrbar zu machen. Denn diese lassen gerade das vergessen, was Schilling in seinem gesamten Werk bewusst zu machen versucht: die spezifischen Bedingungen menschlicher Wahrnehmung und ihrer medialen Transformation, besonders unter den Aspekten von Perspektivität und Bewegung – oder allgemeiner, Raum und Zeit.

Bis 1971 entstanden mehrere Werkgruppen in Linsenrastertechnik, in denen er jeweils ein begrenztes Repertoire an Bildmotiven in unterschiedlichen Formaten und Zusammenstellungen variierte. Das Tableau ›Chicago 1968‹ besteht aus vier Bildsegmenten, deren zugrundeliegende Aufnahmen Schilling bei den Straßenunruhen anlässlich des Parteikonvents der Demokraten Ende August fotografierte. Die Vereinigung verschiedener Aufnahmen in jeweils jedem Segment lässt je nach Blickwinkel verschiedene Bilder erscheinen. Sie zeigen bewaffnete Polizeieinheiten mit Gasmasken und Verletzte; unter den Gruppen der Hippies, Yippies (Mitglieder der Youth International Party) und anderen Protestbewegungen gegen Rassendiskriminierung und Vietnamkrieg sind auch Richard Seaver, Jean Genet und William Burroughs erkennbar.

ALFONS SCHILLING, ›Chicago 1968‹, um 1969 (Ansicht b, Richard Seaver, Jean Genet und William Burroughs im Quadranten rechts oben). Courtesy: Fotosammlung OstLicht, Inv. 085-03143

Auf dem Parteitag wurde ein Befürworter des Vietnamkriegs, Hubert Humphrey, zum Präsidentschaftskandidaten und Herausforderer von Richard Nixon nominiert (nachdem der charismatische Kandidat Bobby Kennedy einem Attentat zum Opfer gefallen war). Das brutale Vorgehen gegen die Demonstranten wurde in den Medien mit der Niederschlagung des Prager Frühlings wenige Tage zuvor verglichen. Die Chicago Riots sind ein historischer Wendepunkt, um den sich bis heute zahlreiche Mythen hielten. Fragen der Perspektive und Weltanschauung sind in dieser Arbeit also auch auf inhaltlicher Ebene virulent. Schilling visualisiert die Ereignisse ›integral‹, in einem komplexen Gemenge an Bildräumen, in denen sich die Aufnahmen der politischen Kontrahenten überlagern und bei geringfügigem Wechsel des Blickpunktes jeweils mehr oder weniger in den Vordergrund treten.

ALFONS SCHILLING, ›Chicago 1968‹, um 1969 (Ansicht c). Courtesy: Fotosammlung OstLicht, Inv. 085-03143