Inge Morath, Henri Cartier-Bresson, Paris, 1961

Katalogtext zu Los 102 der 10. WestLicht Foto-Auktion am 21.3.2014, Schätzpreis € 4000–5000. Publiziert im Auktionskatalog, hg. von Peter Coeln, Westlicht Photographica Auction, Wien 2014, S. 70 (dort gekürzte Fassung)

INGE MORATH, Henri Cartier-Bresson, Paris, 1961. Vintage Silbergelatineprint, 22,4 x 32,8 cm / 27,8 x 35,3 cm, rücks. von der Fotografin signiert, betitelt und Negativnr. ›61-15-4/29‹ sowie bez. ›IM574‹ und Agenturaufkleber. Courtesy: Westlicht Photographica Auktion, Wien (Los 102)

Inge Morath (1923–2002) und Henri Cartier-Bresson (1908–2004) kannten sich zum Zeitpunkt der Aufnahme seit rund einem Jahrzehnt. Sie hatte 1949 als junge Redakteurin im Pariser Büro der Agentur Magnum seine Kontaktbögen studiert, was ihren Zugang zur Fotografie maßgeblich prägte. In London begann sie 1951 intensiv zu fotografieren. Zwei Jahre darauf kehrte sie nach Paris zurück, erhielt erste Aufträge bei Magnum und wurde für etwa ein Jahr Cartier-Bressons Assistentin. Sie unterstützte ihn bei seinem Projekt ›The Europeans‹ und reiste mit ihm nach Spanien. 1955 wurde sie als Vollmitglied bei Magnum aufgenommen und arbeitete in den folgenden Jahren an zahlreichen Reportagen für internationale Auftraggeber.

Moraths Porträts entstanden allerdings nicht nur im Auftrag, vielmehr initiierte sie häufig Sitzungen im Alltagskontext von Persönlichkeiten, die sie interessierten. Das ideale Setting sah Morath – nicht nur bei Porträtaufnahmen – in einer Sphäre respektvoller Vertrautheit; ein unbemerktes Pirschen nach womöglich entlarvenden Schnappschüssen entsprach ihr ebenso wenig wie vertrauliche Nähe oder unmittelbare Konfrontation. Aus meist mittlerer Entfernung überlässt sie ihrem Gegenüber genügend Raum um sich der Kamera bewusst zu stellen. Cartier-Bresson war zum Zeitpunkt der Aufnahme am Beginn seiner Fünfziger und bereits einer der weltweit anerkanntesten Fotografen, nicht nur im Bereich des Bildjournalismus, sondern auch in der Kunst (einige Jahre zuvor hatte er als erster Fotograf im Louvre ausgestellt).

INGE MORATH, Henri Cartier-Bresson in seiner Wohnung, Paris, 1961. Vintage Silbergelatineprint, 22 x 32,7 cm / 27,6 x 35 cm, rücks. von der Fotografin signiert, betitelt, Negativnr. ›61-15-4/24‹ sowie bez. ›IM1050‹ und Agenturaufkleber. Courtesy: Fotosammlung Ostlicht, Inv. 85-02234

Moraths Annäherung an Cartier-Bresson in dessen Pariser Wohnung verdeutlicht einer der vorhergehenden Kader mit Negativnummer 24 aus derselben Sitzung. In der früheren Aufnahme ist einiges mehr von der eleganten Einrichtung zu sehen, inklusive einem markanten Lilienstrauß, der rechts ins Bild ragt. In der späteren Aufnahme (Lot 102, zuoberst abgebildet) lenken die Proportionen des formalen Aufbaus und der engere Bildausschnitt das Augenmerk dagegen stärker auf Cartier-Bresson in seinem schicken Dreiteiler. Prominenter erscheint auch ein Kissen in streng grafischem Muster direkt neben dem Sitter – es vermittelt eine Aufgeräumtheit, die man mit den Qualitäten von Cartier-Bressons eigener fotografischer Arbeit verbindet. Besonders evokativ ist der Blick des Fotografen, in dem Vertrautheit und Aufmerksamkeit lesbar sind, gleichzeitig eine Spur von abwartender Reserviertheit – ein Eindruck, der wohl auch aus der hohen Kameraposition resultiert. Dadurch vermeint man einen Hinweis auf das Verhältnis von Fotografin und Modell zu erkennen: ein Mentor, der auf seine emanzipierte Schülerin blickt, die mittlerweile ihre aufstrebende Karriere unabhängig verfolgt.

Lit.: Inge Morath, Portraits. Introduction by Arthur Miller, New York 1986, S. 84; Inge Morath. Das Leben als Photographin, Kat. Kunsthalle Wien, München 1999, S. 158.