Vom Samoa zum Isonzo. Die Fotografin und Reisejournalistin Alice Schalek

Rezension der Neuerscheinung im Mandelbaum Verlag zur Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, 9.11.1999–30.1.2000. Publiziert in: Camera Austria 70/2000, Graz, S. 83f.

VOM SAMOA ZUM ISONZO. Die Fotografin und Reisejournalistin Alice Schalek, hg. und mit Texten von Elke Krasny, Marcus Patka, Christian Rapp, Matthias Herrmann und Nadia Rapp-Wimberger, Kat. Jüdisches Museum Wien, Wien: Mandelbaum Verlag 1999

Unmittelbar nach der großen Ausstellung zu Karl Kraus und dessen Zeitschrift Die Fackel widmete sich das Wiener Jüdische Museum der Schriftstellerin und Journalistin Alice Schalek (1874–1956), die Kraus sowohl in seinen Glossen als auch in Die letzten Tage der Menschheit scharf kritisiert hatte: ›eines der ärgsten Kriegsgräuel, die der Menschenwürde in diesem Krieg angetan wurden, (sind) die obszönen Tagebuchblätter, (...) die ein Frauenzimmer verfasst hat, das sich für seine Weiblichkeit kein anderes Feld der Anregung zu verschaffen wusste als das Feld der Ehre‹.

ALICE SCHALEK, Stellungen in den Dolomiten, Südtirol 1915 (ÖNB, BA), Kat. S. 65. Neue Freie Presse, 8.9.1915: ›Wir kommen gerade recht. Denn eben beginnt ein Schauspiel, das keines Künstlers Kunst spannender, leidenschaftlicher gestalten könnte. Jene, die daheim bleiben, mögen unentwegt den Krieg die Schmach des Jahrhunderts nennen (...) jene, die dabei sind, werden aber vom Fieber des Erlebens gepackt, das wohl durch Jahrtausende hindurch noch jeden Kämpfer erfasste und das vielleicht eine der Ursachen ist, aus denen trotz aller Gräuel und Nöte doch immer wieder der Krieg erwächst.‹

Kraus’ Kritik an Alice Schaleks Kriegsberichterstattung ist durchaus berechtigt, was Schaleks Mitwirkung an einer von Euphorie getragenen Propaganda betrifft – hier sei diese nur mit den Schlagworten Reinigung, Befreiung, Demokratisierung und Amerikanisierung umrissen. Kraus’ Argumentation zeugt allerdings auch von dessen konservativem, patriarchalem Frauenbild – einem Frauenbild, von dem Alice Schalek stark abwich.

Abgesehen von ihrer zweifelhaften Rolle im ersten Weltkrieg war Alice Schalek vor allem als Reisejournalistin tätig.1 Von etwa 1905 bis 1939 stellte sie die fotografischen Dokumente ihrer Reisen gemeinsam mit selbstverfassten Kommentaren in Feuilletons, Buchpublikationen und Lichtbildervorträgen einem breiten Publikum vor. Alice Schaleks Foto-Nachlass, der vor einigen Jahren von der Österreichischen Nationalbibliothek angekauft und nun erstmals in einer Auswahl ausgestellt wird, belegt die enorme geografische Erstreckung ihrer Reisen. Die eindrucksvolle Liste der Destinationen umfasst Nord- und Südamerika, den Nahen Osten, Ostasien, Indien, Australien, Ozeanien, Afrika, die Mittelmeerländer und die Balkanstaaten.

ALICE SCHALEK, Eingeborenenfamilie, Neuguinea, 1913 (ÖNB, BA), Kat. S. 89

Dabei wurden ihre Routen weniger von spezifischen (etwa ethnografischen oder kunstgeschichtlichen) Interessen bestimmt als von einer (welt-)umfassenden Sehnsucht nach fernen Ländern (im heutigen kulturwissenschaftlichen Jargon: nach dem Fremden) sowie von der Pragmatik des ›professionellen Reisens‹ an sich, den Verkehrsverbindungen, Einreiseformalitäten sowie der publizistischen Verwertbarkeit der Themen. Alice Schaleks Bewusstsein für öffentliche Wirksamkeit, ihr ›Draht‹ zu den Medien und ihr Durchsetzungsvermögen bei Ämtern und Entscheidungsträgern, dürfte auch mit ihrer Herkunft zusammenhängen. Sie entstammte einer wohlhabenden (jüdischen) Familie, die dem liberalen kaisertreuen Bürgertum angehörte und das erste österreichische Annoncenbüro gegründet hatte, das Firmen eine zielgruppengerechte Inseratenplatzierung in Zeitungen vermittelte. Das Selbstverständnis ihrer sozialen Schicht gründete sich weniger auf eine politische oder religiöse Identität (Schalek konvertierte 1904 zum Protestantismus), sondern auf einen selbstbestimmten, leistungsorientierten Individualismus.

ALICE SCHALEK, Judenfamilie, Tripolis 1905 (ÖNB, BA), Kat. S. 77. Neue Freie Presse, 26.2.1906: ›Im Judenviertel herrscht Feiertagsstille. (...) Wir treten bei einem reichen Seidenhändler ein. In dem großen, lichten Hof ist eine richtige Hütte gezimmert, deren Dach frische Bambusblätter und Granatäpfel schmücken und die einen zierlich gedeckten Tisch enthält, an dem die frommen Juden während des Laubhüttenfestes speisen. Freudig begrüßt uns die Frau des Hauses.‹

Als bürgerliche Reisefotografin in Zeiten des sich eben entwickelnden Massentourismus interessierte sich Alice Schalek nicht für Baudenkmäler oder landschaftliche Motive, sondern vor allem für ›gesellschaftliche‹ Ereignisse im weiteren (das Straßenleben, die Lebensumstände der Frauen) und engeren Sinn (Hochzeiten, Begegnungen mit Prominenten und Auswanderern). Viele ihrer Fotografien könnte man als Porträts ansehen – nicht nur, weil ihr bevorzugtes Motiv Personen waren, sondern auch, weil diese Aufnahmen häufig in Situationen zustande kamen, die einer ›Porträtsitzung‹ vergleichbar sind: Frontal zur Kamera ausgerichtet, in steifen Posen stehen indische Tempeltänzerinnen, eine jüdische Familie in Tripolis, ein südafrikanischer Zulu mit Rikscha; sitzen ein indischer Barbier und sein Kunde, eine Eingeborenenfamilie in Neuguinea sowie Beduinenfrauen auf Kamelen im sorgfältig ausgemittelten Bildzentrum und blicken konzentriert oder gelangweilt, mitunter sogar missmutig in die Kamera.

ALICE SCHALEK, Barbier in Bombay, Indien 1929 (ÖNB, BA), Kat. S. 57

Was bei allem Wagemut der Fotografin, sich dem Unbekannten auszusetzen, doch vor allem anderen Distanz spüren lässt. Selten wird die Halbtotale überschritten; da Schalek meist mit durchschnittlicher Brennweite fotografierte, werden die Motive auch nicht durch die Optik ›herangeholt‹. Die Entwicklung einer eigenen Bildsprache oder gestalterische Experimente interessierten sie nicht – ihre Bildlösungen werden fast immer von Orthogonalen, oft begleitet von einer markanten diagonalen Fluchtlinie, bestimmt: ›wie Dioramen, die durch Haltegriffe der westlichen Zivilisation wie Schiffsrelings, Eisenbahnschienen oder Hotelveranden abgesichert sind‹.2 Wohl nicht zufällig fotografierte Alice Schalek vorzugsweise mit mittel-formatiger Plattenkamera mit Balgenauszug, die, anders als eine handliche Kleinbildkamera, eine spontane Aufnahme und schnelle Reaktion nicht gerade erleichterte. Der Kamera kam die Funktion eines schützenden – vielleicht sogar bannenden, jedenfalls aber ordnenden – Schirmes zu; der Entdeckungswille erstreckte sich eher in die (geografische) Breite als in die Tiefe (der Kontaktaufnahme und Auseinandersetzung).

ALICE SCHALEK in New York um 1950, Kat. S. 18

Das Spektakuläre der fotografischen Trophäen von Alice Schalek liegt in den Sujets bzw. den Umständen ihres Zustandekommens; dabei spielte es eine besondere Rolle, dass eine Frau hinter der Kamera stand: Alice Schalek, die in konventionelle Männerdomänen vordrang und somit in der eigenen Heimat eine Fremde war, konnte leichter Grenzen und Fremdheiten überbrücken als ein reisender Mann und außerdem Verständnis für jenen ›wechselseitigen Exotismus‹ aufbringen, der touristischen Begegnungen anhaftet. Jedenfalls war es Schaleks zunehmendes Interesse an Frauenfragen, in denen sie gegen Ende ihrer Karriere ihr Engagement konzentrierte. In den späteren Arbeiten aus den dreißiger Jahren, ›verhältnismäßig engagierte(n) Auslandsreportagen‹, zeigt sich eine Abkehr von den ›Reisefeuilletons der Frühzeit mit ihrer Fetischisierung der subjektiven Empfindung‹.3 Freilich blieb sie trotz wachsendem Bewusstsein für die kulturelle Konstruktion von Weiblichkeit und ihrer Bewunderung für die jungen Frauenbewegungen in Indien, Japan und den USA in der Ausgewogenheit des nur beobachtenden Feuilleton-Geplauders und den Bedingungen der eigenen kulturellen Herkunft gefangen.

ALICE SCHALEK, Chinesin mit verkrüppelten Füssen, Mandschurei 1923 (ÖNB, BA), Kat. S. 130. Aus: Japan - Das Land des Nebeneinander, Breslau 1925: ›Die Figuren der chinesischen Mitreisenden passen stilgemäß in das ostasiatische Landschaftsbild, vor allem die der Frauen, die sich hier noch die Füße in geradezu Mitleid erregender Weise verkrüppeln, während man in den von den Engländern verwalteten südchinesischen Häfen nur mehr ganz alte Frauen mit solchen Stumpffüßen sieht.‹

So bleibt das Interessante an dieser Ausstellung gerade das Nichtaußergewöhnliche, der common sense, der sich in der Figur und im Werk von Alice Schalek niederschlägt: die Anfänge des Massentourismus und seine mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe (die u. a. in vier ausgezeichneten Katalogbeiträgen dargelegt werden) bzw. ein spezifisch touristischer Blick auf das Fremde, der trotz (kalkuliertem) Risiko vor allem der affirmativen Selbstvergewisserung gilt.

In Österreich, wo die Frage nach dem Umgang mit dem Fremden anlässlich der Regierungskoalition zwischen ÖVP und FPÖ eine besondere Aktualität gewonnen hat, bleibt zu bemerken, dass es dem Jüdischen Museum hoch anzurechnen ist, diese widersprüchliche Figur in die Geschichte zurück geholt zu haben. Denn im Kampf gegen Rassismus und Fremdenhass darf jene Haltung nicht aus dem Blickfeld verschwinden, die diesem nur scheinbar entgegengesetzt ist: die zeitgenössische Spielart eines bürgerlich-konservativen, vergleichsweise moderaten, vermeintlich ›interesselosen‹ Blicks auf fremde Kulturen und Menschen. Besonders in einem Land, das nie (bedeutende) Kolonien besaß, bleibt im Zeitalter des Postkolonialismus die Auseinandersetzung mit historischen Figuren wie Alice Schalek auch aus (wahrnehmungs-)politischen Gründen für heutige Debatten fruchtbar.

1  Wie Schaleks Kriegsberichterstattung im Kontext ihres ›Reisefeuilletonismus‹ zu sehen ist, bzw. wie ›Welten- und Schlachtenbummel‹ zusammenhängen, sowie ihre Rolle in der Kriegspropaganda erörtert Christian Rapp in ›‘Das Ganze ist so grandios organisiert...’. Der Weltkrieg der Alice Schalek‹, in: a. a. O., S. 23–35.

2  Elke Krasny, Nadia Rapp-Wimberger, Christian Rapp im Einführungstext des Kataloges, a. a. O., S. 18.

3  Zu diesen Fragen sei nochmals der Katalog empfohlen, besonders: Elke Krasny, ›Tempeltänzerinnen und Berufsfrauen. Von Frauen in der Fremde‹, in: a. a. O., S. 37ff und Nadia Rapp-Wimberger, ›Vom Bummel zur Reportage. Alice Schaleks Indienreisen 1909 und 1928‹, a. a. O., S. 49ff.