Inge Morath, Eveleigh Nash in der Buckingham Palace Mall, London, 1953

Artikel zur Online-Präsentation der Fotosammlung WestLicht, veröffentlicht 2013 (seit der Reorganisation und Umbenennung in Fotosammlung OstLicht 2015 abrufbar unter https://www.ostlicht.org/en/collection/highlights)

INGE MORATH, Eveleigh Nash in der Buckingham Palace Mall, London, 1953. Silbergelatineabzug, 21,6 x 30,8 cm, rückseitig Copyrightstempel. Courtesy: Fotosammlung Ostlicht, Inv.-Nr. 83-02837

Einer der ersten Aufträge als Magnum-Mitglied führte Inge Morath (1923–2002) nach London, wo sie eine Bildreportage über die Bewohner der Viertel Soho und Mayfair für das ›Holiday Magazine‹ aufnahm. Das Porträt der wohlhabenden Eveleigh Nash (1873–1956) mit ihrem Chauffeur in der Buckingham Palace Mall gehört zu Moraths bekanntesten Bildern, es wurde vielfach publiziert und verschiedene Abzüge befinden sich in bedeutenden Sammlungen. Obwohl Eveleigh Nash durchaus eine profilierte Figur der Literaturgeschichte war, ergibt eine Google-Suche weit mehr Verweise auf diese Aufnahme als Informationen über ihre Biografie. Bereits seit 1902 als Verlegerin tätig, arbeitete Nash mit so prominenten AutorInnen wie Arthur Conan Doyle und Jane Austen. Mit knapp 70, etwa zehn Jahre vor Moraths Porträt, hatte sie ihre Memoiren unter dem Titel ›I liked the life I lived‹ veröffentlicht.

Die vielschichtige Komposition scheint zwei Perspektiven mit verschiedenen Fluchtpunkten zu haben. Außerdem ist die distinguierte Dame in ihrer offenen Limousine mit dem Hintergrund verschränkt, indem Teile der Karosserie den Rahmen für Nebenfiguren abgeben: Der Chauffeur, die beiden männlichen Passanten und die Fußgänger auf der Allee sind die Protagonisten dieser Mise-en-scènes. Da Rahmung immer einer Abgrenzung entspricht, lässt sich sagen, dass sich in dieser Bildstruktur auch gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln. Soziale Codes, die sich in spezifischen Posen im Bild manifestieren, werden in Moraths Setting zur Wirkung gebracht.

Im Blick der Porträtierten – sowohl der Chauffeur als auch Mrs Nash schauen in die Kamera – zeigt sich außerdem ein anderes ambivalentes Verhältnis: jenes zwischen porträtierter Person und Fotografin, inklusive der Rolle der Kamera, wie sie beim spezifischen Bildautor Einsatz findet. Indem sich in der Haltung der Porträtierten ihre Reaktion auf das ›Gegenüber‹ manifestiert, wird die Fotografin im Bild spürbar.

Moraths Arbeitsweise spiegelt sich hier in konzentrierter Aufmerksamkeit aus einer mittleren Entfernung. In ihren ausbalancierten Bildarrangements erhalten die Dargestellten ausreichend Raum, um sich der Kamera bewusst zu stellen. Typisch für Moraths Arbeitsweise ist auch die eingehende Beschäftigung mit den Dargestellten, die dem fotografischen Akt stets vorausgeht. Es ging ihr nie um ein blitzschnelles Erheischen, nie um spektakuläre oder entblößende Momente; vier Meter Distanz und das 50 mm Objektiv sind ihre bevorzugte Optik.

Lit.: Olga Carlisle, Große Photographen unserer Zeit: Inge Morath, Luzern 1975, S. 25, ill. 71; Werner A. Bischof (Hg.), After the War was Over. 168 Masterpieces by Magnum photographers, London 1985; Inge Morath, Portraits. Introduction by Arthur Miller, New York 1986, S. 76f.; W. Manchester (Hg.), In our Time. The world as seen by Magnum photographers, London 1989, S. 384f.; Kurt Kaindl (Hg.), Inge Morath. Fotografien 1952–1992, Salzburg 1992, S. 12, 65; Peter Coeln, Achim Heine, Andrea Holzherr (Hg.), MAGNUM's first, Ostfildern 2008, S. 132f.