Aufsehenerregende Blicke ins Off. Fotografien von Lisette Model

Rezension der Ausstellung: Lisette Model, Kunsthalle Wien, 28.6.–15.10.2000. Publiziert in: Camera Austria 72/2000, Graz, S. 69

LISETTE MODEL. FOTOGRAFIEN 1934–1960, hg. von Monika Faber und Gerald Matt, Kunsthallt Wien, mit Texten Ders. sowie von Ann Thomas, Lori Pauli und Edek Bartz, Kat. Kunsthalle Wien 2000

Eines der Plakate, die diese Ausstellung in Wien ankündigten, zeigt den kuriosen Schnappschuss einer Bar-Sängerin, die mit weit aufgerissenen Augen lauthals ins Mikrofon singt, von unten aufgenommen und schräg ins Bild gestellt, mit Federn im Haar, die die schrille Pose betonen. Abgesehen von der hohen Signifikanz als Plakat verweist diese Motiv bereits auf das Faible der Fotografin Lisette Model (1901–1983) für massive körperliche Präsenz und ›unvorteilhafte‹ Situationen, die von herkömmlichen Schönheits- und auch fotoästhetischen Idealen abweichen und durch enge Ausschnitte pointiert ins Bild treten.

LISETTE MODEL, Café Metropole, New York, ca. 1946. Courtesy: National Gallery of Canada, Ottawa, Kat. S. 109

Dass ein Foto wie dieses heute nicht mehr zu schockieren vermag, ist zu einem nicht unwesentlichen Teil Lisette Models Einfluss auf folgende Generationen zuzuschreiben – die Anstöße, die sie (etwa als Lehrerin an der School for Social Research in New York) gab, lassen sich über Diane Arbus bis hin zu Larry Clark und Nan Goldin nachzeichnen. Ihr Credo vom Wert subjektiver Betroffenheit und Anteilnahme des Fotografen sowie ihre bevorzugten Themen, die immer auch in einem sozialkritischen Kontext lesbar sind, bestimmen noch heute weite Teile des theoretischen Diskurses (Stichworte: Wiederkehr des Autors; Cultural Studies) und der fotografischen Praxis (Stichworte: Lifestyle, Subkultur). In den dreißiger und vierziger Jahren gehörte Lisette Model (1901–1983) zum Kreis derer, die vorherrschende fotografische Tendenzen ihrer Zeit überwanden: das Foto als geschlossene Anekdote, als perfekt kadrierter, entscheidender Moment, im Sinne einer symbolisch sprechenden Bildfindung (à la Henri Cartier-Bresson, Andre Kertész oder Robert Doisneau) sowie das Konzept der Sozialdokumentation, das zunehmend in poetische Verklärung oder weltfremden Humanismus abzugleiten drohte.

LISETTE MODEL, Sammy's Bar, New York, ca. 1940/44. Courtesy: National Gallery of Canada, Ottawa, Kat. S. 29 und 110

Die von Monika Faber zusammengestellte Ausstellung ermöglicht nun erstmals in Österreich, wo Model 1903 als Elise Amelie Felicie Stern geboren wurde, eine eingehendere Betrachtung der Arbeit der Fotografin. Im Mittelpunkt vieler Serien (Straßen- und Barszenen; Aufnahmen bei Jazzkonzerten und Modeschauen; Blinde, Transvestiten, Bettler und Schickeria) steht häufig ein Mensch oder ein spezifischer Moment des Austausches zwischen Menschen. Was einem in der Ausstellung alsbald auffällt, sind Augen bzw. Blicke: In den allermeisten Fällen sind diese in extremen Winkeln aus dem Bild gerichtet – auf einen Punkt im Off, auf eine Bühne, einfach ins Leere oder auf eine weitere Person im Bild. Anhand dieser Fotografien ließe sich eine Phänomenologie der Blickbeziehung zwischen Publikum und Akteur sowie der Mikrokosmen sozialer Kommunikation aufzeigen (das Lächeln nach einem Kompliment, der Seitenblick während eines Kusses, der Blickwechsel beim Feuergeben...).

Bei Aufnahmen Einzelner verzichtet Model allerdings oft auf dieses ›sprechende‹ Motiv nahsichtiger Personenfotografie – neben etlichen durch Hutkrempen, Sonnenbrillen und anderen Schatten verdunkelten Augen gibt es eine Unzahl von gesenkten Lidern oder im Schlaf, beim konzentrierten Musizieren oder in heftigen Gefühlsausbrüchen geschlossene Augen; weiters finden sich eine Menge ›leerer‹ Blicke, eine Ausdruckslosigkeit, wie man sie in vom Blitz erschreckt aufgerissenen Augen oder in Momenten des In-sich-gekehrt-Seins findet – oder ›Augenposen‹ in einem Ensemble von anderen ausdrucksstarken Zeichen, wie bei jener Barsängerin; stößt man auf konzentrierte Blicke, so stammen diese meist von Personen im Hintergrund des eigentlichen Motivs, die die Arbeit der Fotografin aufmerksam beobachten, ohne selbst im Zentrum der Aufnahme zu stehen.

LISETTE MODEL, Promenade des Anglais, Nizza, ca. 1933/38. Courtesy: National Gallery of Canada, Ottawa, Kat. S. 44

Jenen Blickaustausch hingegen, in dem sich die flüchtige Beziehung zwischen Fotografin und Fotografierten im Moment der Aufnahme (sowie die Präsenz der Fotografin!) im Bild manifestieren könnte, vermied Model weitgehend. Direkten Blickkontakt ließ sie bezeichnenderweise nur dann zu, wenn sich im Blick in die Kamera, der Vereinbarung über den Aufnahmeakt, etwas Besonderes zeigen ließ: So entlarvte sie etwa in ihren Aufnahmen von Urlaubern an der Côte d’Azur die Dekadenz der Bourgeoisie; hier werden in der jeweiligen Zurichtung der Porträtierten auf die Kamera bzw. ihr Bild, verbrauchte Posen dünkelhafter Selbstdarstellung sichtbar.

LISETTE MODEL, Modeschau im Hotel Pierre, New York, ca. 1940/46. Courtesy: National Gallery of Canada, Ottawa, Kat. S. 45

Die Grenze zu Voyeurismus und Bloßstellung ist wohl jener schmale Grat, auf dem die Expressivität der anderen Bilder, die ohne das Wissen der Fotografierten entstanden, gedeiht. Dabei bewahren paradoxerweise genau die vielfach gekippten und engen Bildausschnitte (deren Enge Model meist durch weiteres Beschneiden der Aufnahmen verstärkte), also das demonstrative Herausstellen der Szenarien, die Sujets davor, nur für ein kurioses Foto denunziert, auf eine groteske Pose reduziert zu werden – denn viel zu deutlich sind die nachdrücklichen Verweise dieser Bilder auf ein Off (welches auch im ›Inneren‹ der Schlafenden und Gedankenverlorenen liegen kann). Die diagonalen Blickachsen aus dem Bild, die isolierten momentanen Beziehungen, sprechen immer auch von einem Vorher, einem bildexternen Umfeld. Damit sagt uns Model nicht nur Wesentliches über zentrale Paradigmen des Fotografischen – ›den Schnitt durch Zeit und Raum‹ (Philippe Dubois) – sondern auch über die Fülle jener Augenblicke, die ›das Ganze‹ ausmachen, die Kontingenz der Individualität, die sich – auch im Foto – so schlecht über ›Wesentliches‹ erklärt.