Balancieren zwischen Abgrenzung und Auflösung. Francesca Woodman

Rezension der Neuerscheinung bei Scalo 1998. Publiziert in: Camera Austria 65/1999, Graz, S. 89

FRANCESCA WOODMAN, hg. von Hervé Chandès, mit Texten von David Levi Strauss, Philippe Sollers, Elizabeth Janus und Sloan Rankin, Kat. Foundation Cartier Paris, Berlin/New York: Scalo Verlag 1998

Francesca Woodman wurde 1958 in Denver, Colorado geboren. Sie wuchs in den USA und in Italien auf (ihre Eltern, beide Künstler, besaßen ein Haus in der Toskana). Bereits mit 13 Jahren begann sie intensiv zu fotografieren. Während ihrer Collegezeit an der ›Rhode Island School of Design‹ (RISD) lebte sie in Providence in einem Industrieloft, wo sie ihre fotografische Arbeit weiterentwickelte. Mit 19 verbrachte sie ein Jahr in Rom als Austausch-Studentin des RISD. Nach ihrem Collegeabschluss versuchte sie als Fotografin in der New Yorker Kunstszene Fuß zu fassen. Im Jänner 1981 verübte sie Selbstmord, indem sie sich aus dem Fenster stürzte. In dieser kurzen Schaffenszeit, von ihrem 13. bis zum 22. Lebensjahr, schuf Francesca Woodman ein erstaunlich umfangreiches und komplexes Œuvre, das Abigail Solomon-Godeau dazu veranlasste, von einem ›Wunderkind‹ zu sprechen.1

FRANCESCA WOODMAN, Ohne Titel, New York 1979/80

Fast in all ihren Bildern fotografierte Woodman sich selbst, entweder in mädchenhaften Blumenkleidern, mit entblößtem Oberkörper oder nackt; wobei ihr Körper bereits in den ersten Selbstporträts ebenso (früh)reif erscheint, wie ihre ästhetischen Verfahrensweisen und thematischen Inhalte. Ihre Aufnahmen entstanden in heruntergekommenen Abbruchhäusern, halbleeren Räumen, seltener auch im Freien. Woodmans performative Posen (meist bewegte sie sich während der Aufnahme) nehmen direkt auf die räumlichen Gegebenheiten Bezug. Oft benutzte sie Requisiten zum Aufbau ihrer Settings: Spiegel, Glasplatten, abgerissene Tapeten, Scherben, Pelze und Tücher, aber auch Perlen, Blumen und lebende Aale. Dabei schuf Woodman nur selten Einzelbilder; vielmehr handelte sie ihre fotografischen ›Problem-Sets‹ (Rosalind Krauss) in Serien oder Variationen ab.

Abgesehen von einigen (meist vergriffenen) Katalogen und etwa einem Dutzend Artikel über ihre Arbeit gab es bislang keine Möglichkeit, sich über das Werk dieser bemerkenswerten Künstlerin zu informieren; immerhin tauchten ihre Fotografien in den letzten Jahren häufiger in verschiedenen Themenausstellungen auf.2 Nun erschien im Scalo-Verlag eine erste umfassende Monografie zum Werk von Francesca Woodman, die eine von der Pariser Foundation Cartier pour l'art contemporain konzipierte und bis September 1999 in verschiedenen europäischen Städten gezeigte Retrospektive begleitet.

FRANCESCA WOODMAN, Ohne Titel, aus der Aal-Serie, Rom 1977/78

Der Abbildungsteil des Bandes enthält rund hundert Fotografien, die nach den Entstehungsorten gegliedert sind: Boulder/Colorado (ab 1972), Providence/Rhode Island (ab 1975), Rom (ab 1977), New York (ab 1979) und MacDowell Colony, Peterborough/New Hampshire (1980). Die Auswahl der Bilder ermöglicht einen guten Überblick über alle Werkphasen; die ›späten‹ (mit 21 Jahren geschaffenen!) Collagen sind in farbigen Falttafeln erstmals publiziert.

Der Textteil, vier Aufsätze zu Leben und Werk, ist dagegen – mehr oder weniger – enttäuschend: In seinem ›The Sorceress‹ (Die Hexe) betitelten Essay nähert sich Philippe Sollers dem Werk von Francesca Woodman als Literat. Seine idiosynkratischen Eindrücke sind zum Teil wohl einfach Geschmacksache. So führen ihn seine Assoziationen etwa zu einer persönlichen Erinnerung an eine New Yorker Sommernacht mit einer Schauspielerin – ›brunette and extremly attractive‹ – die ihn bat, sich aus dem Fenster zu stürzen – ›to see if it makes her come‹. Am zweifelhaftesten ist aber der Grundton des Textes, der das Bild einer mystisch/engelhaften Erscheinung (Woodman als Besessene oder ›inaccessible virgin‹) beschwört, der man nur kopf- und willenlos verfallen könne.

FRANCESCA WOODMAN, Ohne Titel, aus der Engel-Serie, Rom 1977/78

Die beiden weiblichen Autorinnen befassen sich vor allem mit der Biografie Woodmans. Sloane Rankin, eine Studienkollegin, die Woodman nach Rom begleitete, schildert die Sammelleidenschaft und Lebensumstände ihrer Freundin; sie zitiert aus Briefen und Tagebüchern, die aufschlussreiche Informationen über Woodmans Arbeitsweise geben. Elizabeth Janus’ Text ›Un séjour romain‹ widmet sich dem produktiven Romaufenthalt Woodmans. Über eine Gruppe von Intellektuellen und Künstlern, die sich in der Libreria Maldoror trafen, knüpfte Woodman Kontakte zur römischen Kunstszene und erfuhr nachhaltige Anregungen; so entdeckte sie in dieser Buchhandlung die Werke Bretons und der Surrealisten, die Radierungen von Max Klinger sowie alte medizinische Fachbücher und ein italienisches Geometrielehrbuch, das sie später mit eigenen Fotografien und Texten überarbeitete.

Der einzige Essay der Monografie, der sich an eine Interpretation des fotografischen Werkes von Francesca Woodman heranwagt, ist der Text von David Levi Strauss. Gestützt auf Woodmans nachgewiesenes Interesse am Surrealismus sowie seine Beobachtung, dass manche ihrer Fotos fast von Man Ray oder Lee Miller stammen könnten, sieht Strauss in Woodmans Fotografien eine substanzielle Partizipation am Surrealismus – namentlich an dessen ›original revolutionary desire to crack the code of appearances‹. Strauss argumentiert in Anlehnung an Rosalind Krauss’ Thesen zur surrealistischen Fotografie: Indem die Surrealisten die Wirklichkeit nicht als eine naturgegebene, authentische Tatsache, sondern immer schon als zeichenhaftes Konstrukt verstanden, konnten gerade fotografische Bilder mit ihrem indexikalischen Verhältnis zum aufgezeichneten Gegenstand diese Zeichenhaftigkeit der Realität direkt aufzeigen.

Die Übertragung dieser Thesen auf Woodmans Fotografie führt Strauss zu einigen anregenden Feststellungen. So weist er etwa auf das spezifische Beziehungsgefüge der Woodman’schen Settings hin. Obwohl sie gleichermaßen Autorensubjekt und Darstellungsobjekt ihrer Fotografien ist, verfällt Woodman nicht in narzisstische Selbstbeschau; denn immer bezieht sie sich merklich auf eine dritte Instanz, auf die Kamera respektive den Betrachter/die Betrachterin. Dabei liefert sie sich allerdings nie ganz aus (oder böte sich gar an, wie es Sollers Text nahelegt); wenn ihr Körper nicht ohnehin durch denn Ausschnitt fragmentiert wird oder sie sich hinter Spiegeln, Kaminverblendungen, Tapeten oder Tüchern versteckt, entzieht sie sich durch Bewegung, die ihr Abbild verschwimmen lässt. Am räumlichen Aufbau ihrer Settings bleibt immer ein gewisser Abstand zur Kamera spürbar. In ihr Notizbuch schrieb sie lakonisch: ›You cannot see me from where I look at myself‹.

FRANCESCA WOODMAN, Ohne Titel, Rom 1977/78

Eines jener Probleme, die sich Woodman in ihrer Arbeit stellte, waren die Verwandlungen, denen der Körper bzw. der Mensch in seinem Abbild unterworfen ist. Strauss demonstriert dies an der Serie ›Charlie the Model‹, in der Woodman ein männliches Modell ihrer Kunstschule mit Spiegel- und Glasscheiben posieren ließ. Fasst man dieses Problemfeld der (Selbst-)Repräsentation jedoch etwas weiter und bezieht Fragen der Identitätskonstruktion bzw. Individualität mit ein, fügen sich auch weitere Arbeiten in dieses Problem-Set: Serien wie ›Self-Deceit‹ oder ›On Space‹, in denen Woodman ihre Verschmelzungen mit der Umgebung bis zur Auflösung, bis zum Verschwinden treibt, hinterfragen nicht nur die Repräsentation, sondern auch die Präsenz; derartige Bilder sind Metaphern für die Dialektik von Anpassung und Abgrenzung.

Insgesamt bleibt auch Strauss’ Text etwas unbefriedigend – sein Hauptreferenzpunkt, der Surrealismus, reicht nicht aus, um Woodmans Arbeit (die ja Jahrzehnte später entstand!) zu erklären. Wesentlich fruchtbarer wäre ein Vergleich mit fotografischen Positionen, die Francesca Woodman sowohl zeitlich, geografisch als auch inhaltlich näher stehen. So gibt es Bezugspunkte zu zeitgenössischen Fotografen, wie Aaron Siskind und Duane Michels, von denen sie sich zweifellos anregen ließ. Davon abgesehen gehört sie wohl in die Reihe jener Künstlerinnen, die in den 1970er Jahren ebenso Fragen der (weiblichen) Identitätskonstruktion und -repräsentation thematisierten, wie Cindy Sherman oder Ana Mendita. Was Francesca Woodmans Arbeit allerdings auch von diesen Positionen unterscheidet, ist möglicherweise auf ihre Jugend zurückzuführen: Eine ungebrochene Frische in der Herangehensweise und zugleich Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit elementaren – zugleich ersten und letzten – Fragen, die sich wohl nur in sehr frühen oder sehr späten Lebensphasen stellen.


1  Francesca Woodman, Photographic Work, Wellesley College Museum / Hunter College Art Gallery, New York 1986; mit Texten von Ann Gabhart, Rosalind Krauss, Agigail Solomon-Godeau.

2  Fotografien von Francesca Woodman waren etwa 1989 in der amerikanischen Ausstellung ›Vanishing Presence‹, 1992 in der Berliner Ausstellung ›Sprung in die Zeit‹, 1996 in der Bostoner Ausstellung ›Inside the Visible‹ und 1997 in der Wiener Ausstellung ›Engel, Engel‹ zu sehen. Derzeit ist sie in den Ausstellungen ›Photographie des Unsichtbaren‹ und ›Mirror Images‹ vertreten (vgl. die Besprechungen in diesem Heft).