Vom Universum zu den Universalien. ›Oberflächen, Tiefen‹ von Thomas Ruff

Rezension der Ausstellung in der Kunsthalle Wien, 21.5.–13.9.2009. Publiziert in: Camera Austria 83/2003, Graz, S. 77

THOMAS RUFF. Oberflächen, Tiefen / Surfaces, Depths, hg. von Kunsthalle Wien / Gerald Matt. Mit Texten von Cathérine Hug, Tammer El-Sheikh, Douglas Fogle, Kurt W. Forster, Maximilian Geymüller, designed von Cornel Windlin & Jonathan Hares, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2009 (Deutsch, Englisch; Hardcover 23 x 30 cm, 288 Seiten, zahlr. Abb., ISBN 978-3-941185-50-0)

Am Beginn seiner Karriere, mit den Porträts, Architektur- und Sternenbildern der 1980er Jahre, wurde Thomas Ruffs Fotoarbeit vor allem in der neusachlichen Tradition seiner Düsseldorfer Lehrer rezipiert und deren gestochen scharfer, kühler Dokumentarismus in bis dahin ungekannt großen Printformaten hervorgehoben. Als Ende der 1990er sein Œuvre weiter angewachsen war, wurde deutlich, dass seine Position kaum über einzelne Bildgattungen fassbar ist. Seither zeigt sich mit jeder neuen Serie – und auch im Vergleich mit anderen Becher-Schülern –, dass Ruff zunehmend weniger an/in klassischer Fotokunst (sowohl produktionstechnisch als auch bildsprachlich-ikonografisch) arbeitet, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit dem Dokumentarismus, dem fotografischen Paradigma der Referenzialität oder dem Objektivitätsanspruch technischer Bildmedien verfolgt. Dabei bearbeitet er häufig vorgefundenes Bildmaterial und analysiert das bildästhetisch sowie -politisch wirkmächtige Zusammenspiel von technologischen Darstellungs- und Reproduktionsverfahren sowie deren diskursiven Implikationen. Als bildkulturelle Bedingungen unserer mediatisierten Weltwahrnehmung interessieren Ruff insbesondere Strategien wissenschaftlicher und populärer Anwendungen von Fotografie (etwa Fotomontage, Stereoskopie, Zeitungsfotos, Fahndungsbilder, Plakate, Pornografie, Astrofotografie). In diesem Zusammenhang wird meist auf seine Auseinandersetzung mit digitaler Bildmanipulation – etwa in ›nudes‹ (1999), ›Substrate‹ (2001) oder ›jpegs‹ (2006) – hingewiesen. Dass sich Ruff aber auch intensiv mit der (Vor-)Geschichte bzw. Historizität repräsentationstechnologischer Entwicklungen auseinandersetzt, ist besonders in dieser Zeitschrift dargelegt worden.1

Thomas Ruff mit Kuratorin Cathérine Hug und Aufnahmeteam in der Ausstellung der Kunsthalle Wien, Halle 1, vor Exponaten aus den Serien ›cassini‹ und ›zycles‹, im oberen Geschoß „Andere Porträts“, Mai 2009. Fotograf: Stephan Wychoff.

Die von Cathérine Hug kuratierte erste österreichische Personale verzichtet auf viele Arbeiten aus dem Jahrzehnt seit den späteren 1990ern, z.B. auf jene erwähnten Serien, in denen Ruffs Spiel mit verschiedenen bildlichen Realitätsebenen als buchstäbliche Unschärferelation zwischen einer kritischen ›Störung der Verweisung‹ (Martin Heidegger) und einer oft farbenprächtigen ästhetischen Abstraktion zu Tage tritt.2 Stattdessen versammelt die Ausstellung der Wiener Kunsthalle in den beiden zweigeschossigen Seitenflügeln überwiegend Arbeiten bis 1995 aus verschiedenen Porträt- oder Architektur-Serien (z.B. ›Andere Porträts‹, 1994/95; ›Häuser‹, 1987/91; ›Interieurs‹, 1979/83; ›Herzog & de Meuron‹, ab 1991) und gipfelt im großen, hellen Kuppelraum in einer Zusammenstellung der ›Sterne‹ (1989/92) mit zwei brandneuen Werkserien, den ›cassini‹ und ›zycles‹ (2008/09).

THOMAS RUFF, cassini 03, 2008. C-Print, 108,5 x 108,5 cm. Courtesy: Thomas Ruff und Mai 36 Galerie, Zürich / VBK, Wien 2009

Die großformatigen Prints der ›Sterne‹ basieren auf Negativen aus dem European Southern Observatory Archive und zeigen den von Sternen übersäten Nachthimmel, wie er ohne technologische Aufrüstung in dieser Ausdehnung und Klarheit nicht wahrnehmbar ist. Damit stellen sich Fragen nach dem Kunststatus von Fotografie, nach Zeitlichkeit und Realitätskonzeption, die um Dispositive wie apparativem Sehen und Archiv kreisen. Für die ›cassini‹ bearbeitete Ruff Satellitenaufnahmen des Saturn aus dem NASA-Bildarchiv (http://saturn.jpl.nasa.gov/), die von den sogenannten Cassini-Raumsonden als spektrometrische Daten gesammelt und übertragen wurden. Ruffs bunte Einfärbungen der stereometrischen Planetenformen betonen den hohen Abstraktionsgrad dieser Bilder, die in ihren komplizierten physikalischen Entstehungsstadien wohl nur metaphorisch so genannt werden können, gleichwohl Ruffs Endergebnisse sich als ›herkömmliche‹ fotografische Prints präsentieren.

THOMAS RUFF, zycles 3045, 2008. Ink-jet-Print auf Leinwand, 236 x 406 cm. Courtesy: Thomas Ruff / VBK, Wien 2009

Die ›zycles‹ scheinen schließlich gar nichts mehr mit Fotografie, nichts mit der Realwelt zu tun zu haben: mittels eines 3-D-Entwurfsprogramms und mathematischer Formeln generierte Ruff Gebilde aus Liniennetzen und Strahlenbündeln, die er auf Leinwand druckte. Die grafischen Strukturen beschreiben virtuelle Räume, durch die man am Computer navigieren kann und aus denen Ruff per Mausklick Detailansichten ›fotografierte‹. Ausgangspunkt dafür waren Kupferstich-Illustrationen elektromagnetischer Felder aus dem 19. Jahrhundert, also wissenschaftliche Techniken zur Visualisierung jener unsichtbaren Kräfte, die sich als Elektrizität, Magnetismus oder Licht manifestieren.3

Indem diese anregende Ausstellung und der begleitende Katalog in der rhetorischen Formel einer Ellipse frühere Arbeiten mit zwei allerjüngsten Werkserien konfrontieren, eröffnet sich ein spannungsreicher Parcours durch Ruffs künstlerische Konzepte. Der Bogen reicht vom nahsichtigen Blick auf Gesichter und eng begrenzte Raumecken über hermetische Architektur bis zum Universum – und führt dabei letztlich zu Universalien bildlicher Repräsentation, die sich vereinfacht anhand von Begriffsoppositionen wie Oberflächen – Tiefen/Materie – Unfassbarkeit/Technik – Dokumentation/Imagination oder Physik/Poesie umreißen lassen.

1  Sven Lütticken, Thomas Ruff. Die Kunst des Anachronismus, in: Camera Austria 70/2000, Graz, S. 29–40; Herta Wolf, Thomas Ruff. Der Historiker des Fotografischen. Maschinenfotografien und Musterbilder, in: Camera Austria 85/2004, Graz, S. 19–30.

2  Diese oben genannten Werkgruppen wurden kürzlich im Rahmen einer Retrospektive der designierten Leiterin der documenta 13, Carolyn Christov-Bakargiev, gezeigt: ›Thomas Ruff‹, Castello di Rivoli, Museo d’Arte Contemporaneo Turin, 18.3.–21.6.2009.

3  Zu epistemologischen und kunsttheoretischen Implikationen dieser Arbeiten siehe Douglas Fogle, Dunkle Materie, in: Thomas Ruff, Oberflächen, Tiefen, S. 188–204.