Rodtschenkos Neues Moskau. Ein historisches Buchprojekt

Rezension der Neuerscheinung bei Schirmer/Mosel 1998. Publiziert in: Camera Austria 64/1998, Graz, S. 111–112

ALEXANDER RODTSCHENKO. DAS NEUE MOSKAU. Fotografien aus der Sammlung L. und G. Tatunz, hg. von Margarita Tupitsyn, Kat. Sprengel Museum Hannover, München: Schirmer/Mosel 1998

Das fotografische Werk von Alexander Rodtschenko (1891–1956), einem Pionier der Foto-Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre, ist bereits seit längerem bekannt – nicht zuletzt durch die grundlegende Studie ›Rodcenko. Fotograf‹ von Hubertus Gassner, die 1982 bei Schirmer/Mosel aufgelegt wurde. Im selben Verlag, der sich auch um die qualitätvolle Veröffentlichung so bedeutender Konvolute dieser Epoche wie Karl Blossfeldts ›Urformen der Kunst‹ oder August Sanders ›Menschen des 20. Jahrhunderts‹ verdient gemacht hat, erscheint nun ein neuer Rodtschenko-Band, der eine internationale Ausstellung mit Vintageprints begleitet. Publikation wie Ausstellung widmen sich einem nicht realisierten Buchprojekt von Warwara Stepanowa, Künstlerin und Mitarbeiterin (sowie Ehefrau) von Rodtschenko, in dem ›Das Neue Moskau‹ präsentiert werden sollte. Die dafür vorgesehenen Fotografien wurden zwischen 1929 und 1932 mit einer Leica-Kamera aufgenommen, stammen also aus der fruchtbarsten Periode von Rodtschenkos Fotografen-Karriere, und wurden zum Teil auch schon in anderen Zusammenhängen publiziert. Der Wert der vorliegenden Publikation besteht in der umfassenden Rekonstruktion des historischen Buchprojektes anhand der ursprünglichen Maquette sowie der Originalabzüge; die Bilder werden also in der Abfolge und in den authentischen Montagen von Stepanowa/Rodtschenko vorgestellt.

ALEXANDER RODTSCHENKO, Arbat. Straßenverkehr, 1932

Moskau, Hauptstadt der neuen Union der Sowjetrepubliken, in der die Vertreter der künstlerischen Avantgarde maßgebliche kulturpolitische Positionen übernehmen konnten, war eines der zentralen Themen Rodtschenkos, seit er 1925 zu fotografieren begonnen hatte. 1932 feierte die Stadt die Erfüllung des ersten Fünfjahresplans und die neuen architektonischen und technischen Errungenschaften. Wie Tupitsyn ausführt, zeigt sich an Rodtschenkos Begeisterung für Moskau eine nationale Ausrichtung der Avantgarde (nach ihrer vorwiegend transnationalen Orientierung in den zwanziger Jahren). Abgesehen davon ließ sich gerade am chaotischen Getriebe der Metropole, das die Bewohner – oft zugezogene Landbevölkerung – mit einer permanenten Reizüberflutung überforderte, die konstruktivistische Neuorganisation der Wahrnehmung erproben. Denn schließlich sollte der Betrachter durch das Übungsfeld der neuen Fotografie zur Bewältigung genau jener Umwelt erzogen werden: Durch schockierende Seherlebnisse, die aber durch ›Rodtschenko’s Raster‹ (so der Titel von Tupitsyns Essay) in eine konstruktivistische Ordnung gebracht wurden, sollten Aufmerksamkeit, Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit gesteigert werden – nicht zuletzt, um den solcherart gewappneten Genossen besser in den Gesamtzusammenhang der neuen sowjetischen Gesellschaft und der industriellen Produktion einbinden zu können.

ALEXANDER RODTSCHENKO, Feuerwehr-Parade auf dem Roten Platz, 1932

Der Fotoband zeigt deutlich Rodtschenkos Interesse, das neue Moskau als sowjetisches Epizentrum der Moderne zu präsentieren: er fotografierte die eben fertiggestellten konstruktivistischen Bauwerke, Fabriken, Arbeiterklubs, Parks, den Moskauer Zoo, Studentenheime sowie die Moskauer Bevölkerung, bei der Arbeit, beim Sport, im Lesesaal, beim gemeinschaftlichen Verzehr des Kantinenessens oder bei Aufmärschen und seltener im Einzelporträt; ebenso finden sich Nachtaufnahmen, die die aufwendigen Illuminationen der neu elektrifizierten Stadt zeigen und Bilder vom städtischen Verkehr. Anfang und Ende des Fotobandes bilden jeweils Paraden: Ornamente der Masse, die sich in Rodtschenkos aufsichtigen, schrägen Perspektiven zu jenen dynamischen Kompositionen formieren, mit denen der Konstruktivismus die Statik des konventionellen Tafelbildes zu überwinden trachtete.

ALEXANDER RODTSCHENKO, Balkone, 1925

Die einzelnen Serien sind in keine scharf abgegrenzten Kapitel oder Themengruppen unterteilt: In einer Folge von Fassaden finden sich Innenaufnahmen verstreut; in einer Serie mit spielenden Kindern ein Arbeiterporträt; die berühmten Architekturaufnahmen werden durch Straßenszenen unterbrochen. Auffällig ist, dass häufig auf abstraktere Aufnahmen aus stark gekippter Perspektive ein Foto vom selben Sujet in konventionellem Blickwinkel folgt, allerdings ist letzteres erst nach dem Umblättern zu sehen und nicht etwa als direkte Gegenüberstellung. Besonders instruktiv ist die Rekonstruktion des ursprünglichen Publikationsprojektes auch, da sie erlaubt, Rodtschenkos ›faktografische‹ Montagetechnik nachzuvollziehen. Diese Zweierkonstellationen sind quasi filmisch ›geschnitten‹ – Großaufnahmen sind mit Close-ups konfrontiert; Bilder mit ähnlichen Sujets aus unterschiedlichen Standpunkten sind kombiniert oder solche, die einen Bewegungsablauf in zwei verschiedenen ›Stills‹ zeigen. Diese Begrifflichkeit ist umso berechtigter, als Rodtschenko tatsächlich auch mit einer Filmkamera fotografierte, also Einzelkader als Fotografien entwickelte; im übrigen hatte er mit Dsiga Wertow bereits vor seiner fotografischen Tätigkeit zusammengearbeitet. Die engen Bildkombinationen wie auch das Gesamtprojekt machen deutlich, wie wichtig Rodtschenko die Serialität war, die Rezeption der Fotografie als Bildfolge, anstatt der kontemplativen Versenkung in ein Einzelbild.

ALEXANDER RODTSCHENKO, Ochotnij-Straße, 1932

Stilistisch zeigen Rodtschenkos Moskau-Aufnahmen zwei verschiedene Auffassungen: zum einen jene berühmten, aus krassen Blickwinkeln fotografierten Bilder, mit den vorherrschenden Kompositionsmustern von Diagonale und Hyperbel – die Diagonale dominiert den weit überwiegenden Anteil der Arbeiten (ob in Gesims- und Kantenfluchten bei Architekturaufnahmen, gekippten Horizontal- oder Vertikalachsen bei den häufigen Aufsichten, oder sogar in der Bildgewichtung von Porträts), die Hyperbelform beherrscht Aufnahmen vom Dynamo-Stadion, von aufsichtigen Kreuzungen mit Straßenbahnschienen, Massenaufmärschen oder Kinder-Tanzreigen.

Daneben finden sich – wenn auch seltener – vergleichsweise ruhige, statische Bilder, meist in nahsichtigeren ›Genre‹-Aufnahmen, die Arbeiter am Schachbrett oder Kinder beim Spiel zeigen; die überraschendsten Aufnahmen sind hier sicher die Tierbilder, die man einzeln betrachtet wohl kaum Rodtschenko (vielleicht eher Seidenstücker) zuschreiben würde.

ALEXANDER RODTSCHENKO, Kinder im Moskauer Zoo, 1932

Diese formale Heterogenität könnte sich aus der Entstehungszeit des Fotobuchprojektes erklären, das genau in jenen Jahren zusammengestellt wurde, als sich Rodtschenko mit heftigen Angriffen konfrontiert sah. 1930 entstand sein ›Pionier mit Trompete‹, ein aus starker Untersicht aufgenommener junger Trompetenbläser, an dem sich jener Formalismus-Streit entzündete, der 1932 schließlich zum Ausschluss Rodtschenkos aus der Oktober-Gruppe führte. Inwieweit die didaktische Auflösung der abstrakteren, früheren Bilder in unmittelbar folgenden, narrativeren Aufnahmen auf ein Einlenken zurückzuführen ist, muss aber offen bleiben. Denn schließlich gab Rodtschenko, auch nachdem er von offizieller Stelle als staatlicher Fotojournalist unter Vertrag genommen worden war, die formalen Methoden seines frühen Stils nie ganz auf.

Margarita Tupitsyn darf als Spezialistin für jene Phase der sowjetischen Kulturpolitik bzw. Kunstentwicklung gelten, die sie selbst den Übergang von der ›Faktografie zur Mythografie‹ nannte. Mit diesem Band leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Geschichte dieses Umschwungs, der sich in den Debatten um die Position Rodtschenkos – zwischen avantgardistischem Vorreiter und offiziellem Staatskünstler – schon früh ankündigte.