Abstrakte Erb- und Patenschaften. Streiflichter auf Hintergründe, Kategorien und Raster

Publiziert in: Abstraction now, hg. v. Norbert Pfaffenbichler und Sandro Droschl, Künstlerhaus Wien, Graz: Edition Camera Austria 2004, S. 34

ABSTRACTION NOW, hg. v. Norbert Pfaffenbichler und Sandro Droschl, mit Texten Ders. sowie von Christian Höller, Lev Manovich, Marc Ries und Marie Röbl, Graz: Edition Camera Austria 2004 (Deutsch/Englisch, Hardcover 17 x 23,5 cm, 304 Seiten, ISBN 3-900508-51-8)

Den Neunzigern wurde ein gesteigertes Verlangen nach Abbildern authentischer Lebenswelt, ein Hunger nach Repräsentation nach gesagt, die sich in der Hochkonjunktur von Fotoausstellungen genauso wie im vielkommentierten Videoboom manifestierten. Mit ihrer breitenwirksamen Kommerzialisierung, die vor allem durch digitale Bildübermittlung möglich wurde (ob als reality TV oder als Videoclip am Handydisplay), schien der Höhepunkt dieser Sehnsüchte erreicht. Gleichzeitig zeigte der Kunstdiskurs ein neues Interesse an gegenläufigen Tendenzen, wie etwa der repräsentationskritischen Conceptual Art. Nun tauchen in verschiedenen Zusammenhängen auch Projekte auf, die sich künstlerischen Phänomenen widmen, welche man – unter bestimmten Voraussetzungen – mit dem Begriff der Abstraktion fassen könnte. Eine Gegenüberstellung von ›Realistik‹ und Abstraktion verweist auf die frühesten Konzeptionen des Begriffs durch Kandinsky und Worringer1 und verlangt heutzutage relativ kleine gemeinsame Nenner, wie etwa eine bloße Definition abstrakter Bildlichkeit als ungegenständlich oder non-repräsentativ. Dementsprechend unspezifisch und breitangelegt sind auch manche dieser Projekte, denen es mitunter an einem historischen Bewusstsein für die im Laufe des 20. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Besetzung von Begrifflichkeiten und Oppositionen fehlt.

Die Ausstellung ›Abstraction now‹ umging dieses Problem durch den Verzicht auf die zahllosen denkbaren historischen Exempel, denn so wurde eine irreführende Suggestion von vermeintlichen Kontinuitäten vermieden. Jene zentralen Diskurse der Moderne und Postmoderne, die dem Thema und seiner Geschichte inhärent sind, spiegelten sich stattdessen vielfach – meist kritisch oder ironisch gebrochen – in den versammelten, allesamt jüngst entstandenen Exponaten wider.

Das Aufkommen abstrakter Kunst ist eng mit der Entwicklung des Modernismus verknüpft und wurde zunächst als Befreiung von mimetischer Abbildfunktion verstanden, womit auch Bezüge zur zeitgenössischen sozialen Lebenswelt in ihrer Kontingenz abgeschüttelt werden sollten. Die formalen Konstituenten realistischer Darstellung (wie etwa perspektivischer Bildraum, die Illusion von Lichteffekten und der Einsatz von Zeichnung zur gegenständlichen Formgebung) wurden durch neue Gestaltungsmethoden ersetzt. In Folge wandte sich Abstraktion auch gegen Repräsentation per se, gegen eine bildlich-visuelle Vorstellung von Abwesendem bzw. gegen Referenzialität, gleichgültig ob als Symbol, Ikon oder Index.

Die divergierenden Bedeutungen, welche die Abstraktion im Lauf der Zeit annahm, zeigten sich in unterschiedlichen Gestaltungsprinzipien sowie in der Bandbreite und Widersprüchlichkeit jener Attribute, die ihre positiven Ambitionen bezeichneten: biomorph, anorganisch, konstruktivistisch, konkret, generativ, absolut, informell etc. Frühe Abstrakte versuchten eine Veranschaulichung universeller Naturgesetze oder metaphysischer Konzepte, wobei dem Kunstwerk als selbständigem Organismus Modellcharakter und dem Künstler Geniestatus, etwa als Schöpfer einer natura naturans zukam. Die entsprechenden kunsttheoretischen Kategorien lauten Originalität, Autonomie und Selbstreferenzialität. Mit dem Abstrakten Expressionismus erfuhr das Konzept eine Öffnung ins Subjektive. Ein besonderer Höhepunkt modernistischer Abstraktion verknüpft sich mit der Kategorie der Medienspezifität, wie sie Clement Greenberg für die Malerei etwa mit dem berühmten Terminus flatness festlegte.

Den Minimalisten galt das abstrakte Bild als Entfaltung reiner Sichtbarkeit, seine Visualität, Materialität sowie Objekthaftigkeit standen nun im Vordergrund. ›Primärstrukturen‹ sollten ein ganzheitliches Sehen von Gebilden, eine Gestalterfahrung anregen (von der man annahm, dass sie auf anthropologischen Konstanten beruhe, nicht mehr auf der Genialität des Künstlers). ›Nicht-relationales Gestalten‹ wandte sich gegen Prinzipien europäischer Abstraktion, wie Balance und Hierarchie. Postminimalistische Abstraktion, etwa im Rahmen konzeptueller Kunst, ist wiederum als Kritik an vorangegangenen Konzeptionen zu sehen; diese wurden als elitistischer Ästhetizismus oder Formalismus ohne gesellschaftliches Engagement abgelehnt. In den Strategien des Minimalismus und ihrer Verbindung zu mathematischen Regeln und seriellen Produktionsmethoden sah man etwa die Affirmation von technologischer Industriegesellschaft und kapitalistischer Warenästhetik.2

ABSTRACTION NOW. Installationsansicht aus dem Hauptraum mit Arbeiten von Liam Gillick, Esther Stocker, David Jourdan/Lisa Holzer und Lotte Lyon. Foto: Lisa Rastl, Kat. S. 98f

›Abstraction now‹ setzte nun einen besonderen Fokus auf audiovisuelle, bewegte Bilder und Neue Medien; ein Schwerpunkt lag auf interaktiven Websites und offline-Computerprojekten. Diese Software-, DVD-, Video-, Film- und Webarbeiten wurden in einer Medienlounge sowie im Künstlerhauskino präsentiert, während die übrigen Ausstellungsräume den klassischen Genres Malerei und Skulptur sowie Fotografie und Installation vorbehalten blieben. Die mediale Vielfalt sowie das Interesse an Zusammenhängen zwischen einzelnen Disziplinen waren Voraussetzung für das Hauptanliegen der Ausstellung, ›aufzuzeigen, wie sich die bildgebenden künstlerischen Strategien mithilfe der Neuen Medien verändert und erweitert haben, welche spezifische Logik in ihnen steckt und mit welcher Konsequenz sie durchgeführt werden‹ (Pressetext).

Diese Zielsetzung macht deutlich, dass es diesem Projekt um keine Untersuchung der ›Medienspezifität neuer Medien‹ im Sinne eines Greenberg’schen Modernismus ging. Speziell auf dem Gebiet der Fotografie gibt es ja tatsächlich aktuelle Anstrengungen in diese Richtung, bei denen Abstraktion vor allem als ›dezidierte Selbstreflexion im Medium‹ verstanden wird, welche die darstellenden Strukturen der Fotografie zeige, ohne dass diese dienend in die Pflicht genommen würden.3 Stattdessen bestand für die Konzeption von ›Abstraction now‹ kein Zweifel, dass es ›das (reine) Medium‹ längst nur noch als Utopie gibt, und dass eine Reduktion eines Werkes auf seine mediale Physikalität heute kaum mehr sinnvolle Aufschlüsse darüber erbringt.

DORIS MARTEN, Summer in the city, 36, 2000. 36-teilige Wandinstallation, Acryl auf Spanplatten, je 35 x 35 x 2 cm, Kat. S. 137

In vielen der ausgestellten Arbeiten spiegelt sich jener Status von ›Postmedialität‹, der die heutige Kunstproduktion vielfach prägt. Es werden fast ausnahmslos verschiedene, teilweise untrennbar verwobene Medien genutzt, wobei elektronische bzw. digitale Methoden praktisch immer involviert sind, wenn nicht schon im Entwicklungsprozess, dann zumindest bei der Endproduktion bzw. Veröffentlichung. Eine Reflexion dieser Verfasstheit ist nicht Selbstzweck, sondern bestenfalls implizite Selbstverständlichkeit. Dies zeigt etwa die geometrische Malerei von Doris Marten, die auf der Basis digitaler Entwurfsarbeit entsteht; ihre Rapporte aus farbigen Bändern bzw. Streifen bilden räumlich wirkende Gitternetze, die eher an die Ästhetik von Computerspielen erinnern als an Mondrians gestrenges Spätwerk.

Überhaupt sind es häufig orthogonale Formen und Rasterstrukturen, die diese Ausstellung innerhalb der Formensprache gegenwärtiger Kunstpraxis aufspürt.4 Rosalind Krauss hatte das Raster bzw. Gitter als eine emblematische Struktur für die modernistische Kunst und ihre Autonomieansprüche bezeichnet. Es sei exklusive Visualität in purer, d.h. allein vom Bildgeviert determinierter, Verhältnismäßigkeit. Als mythisches Modell ermögliche es, den Widersprüchen zwischen rationellen und spirituellen Werten zu entgehen, indem es scheinbar beides erfüllt und es sei als eine Matrix des Wissens eng mit der Infrastruktur des Sehens verknüpft.5 Doch heute werden damit keine Autonomieansprüche mehr erhoben und die Mythen von Medienspezifität und Essentialität sind überwunden.

So kann etwa die Beschäftigung mit medialen Mikrostrukturen zu einer Geometrie führen, die durchaus aus ›gegenständlichen‹ Entsprechungen herrührt, wie Pixel, Bildschirmzeilen, Photoshop-Farbpaletten und Screens.

NORBERT PFAFFENBICHLER/LOTTE SCHREIBER, notes on color [04], 2003. 4 Neonboxen, 4 DVDs, 4 Monitore, Kat. S. 154

Dies veranschaulichen etwa die Arbeiten von Norbert Pfaffenbichler/Lotte Schreiber und Günther Selichar, die sich mit elementaren Bedingungen digitaler Bildlichkeit beschäftigen; indem diese im Kunstwerk gewissermaßen absolut gesetzt werden, relativiert sich mediale Konditionierung. In Selichars Arbeiten manifestiert sich exemplarisch und in reflexiver Brechung der angesprochene Status zeitgenössischer Medien-Vermengung.

SARAH MORRIS, National Archiv, 2002. Öl auf Leinwand, 214 x 214 cm, Kat. S. 141

Auf standardisierte Raster aus dem architektonischen Kontext der Moderne verweisen die Arbeiten von Liam Gillick und Sarah Morris. Letztere fotografiert Gebäude des International Style und überträgt Fragmente daraus in bunte Gemälde, die lediglich Grundstrukturen, räumliche Gitter, zeigen. Spannender als formal(istisch)e Allianzen ist dabei jener Punkt, an dem sich der Abstraktionsprozess verselbständigt und eine Verfremdung einsetzt, die durch kollektive, massenmediale Bilder von Urbanität geprägt ist.

LIAM GILLICK, distributed, 2002. Eloxiertes Aluminium, Acryllack, 280 x 300 x 120 cm, Kat. S. 116

Gillicks verschiedenfärbige Steckmodul-Objekte greifen eine zentrale Idee der Moderne auf; im Kunstkontext eröffnen sie eine Vielfalt an Konnotationen, suggerieren etwa Verwendbarkeit, thematisieren die Ästhetik und Hierarchien des Displays oder verschieben die Schwerpunkte von Gestaltung und Nebeneffekt. Das Raumraster als Rahmen, Ankündigungsmöbel und Lagergestell. In Duchamp’scher Manier bedient sich dagegen Gerold Tagwerker vorgefertigter Massenware, etwa auch in Form rasterförmiger Regale, um sie im Kunstkontext einer neuen Betrachtung zuzuführen.

ESTHER STOCKER, Ohne Titel, 2001. Acryl auf Baumwolle, 140 x 160 cm, Kat. S. 172

Verschiebungen anderer Art, nämlich geometrische Abweichungen von strenger Orthogonalität finden sich schließlich bei Margit Hartnagel und Esther Stocker. Die Malerei der letzteren zeigt eine besonders subtile zeitgenössische Weiterentwicklung klassischer Abstraktion in der Tradition Mondrians (und verwandter Konstruktivisten). In ihren Rasterungen tanzen einzelne Elemente aus der Reihe und bringen die Formen-Konstellation damit auf jenen schmalen Grad, der die Kippe zur gegenständlichen Gestaltbildung markiert. Wie Martin Prinzhorn ausführt, geht es hier darum, ›Verhältnisse an ihren Grenzen möglichst genau zu spezifizieren und zu erforschen, (...) etwa zwischen Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit‹ – und nicht wie in der modernistischen Abstraktion darum, ›einzelne Aspekte der Bildwahrnehmung wie Farbe, Umriss oder Dreidimensionalität zu isolieren‹.6 Damit erfolgt eine ›Verschiebung von Wahrnehmungsobjekten zur Wahrnehmung selbst‹, die den prozesshaften, dynamischen Charakter der Wahrnehmung visueller Repräsentation betont. Mit angesprochen sind hier Probleme ›allgemein philosophischer als auch wahrnehmungspsychologischer Natur‹, wie die Verankerung von Symbolen bzw. die Zuweisung eindeutiger Inhalte an Repräsentationen.

Für einen flüchtigen Blick sind Stockers Gemälde wohl am engsten mit der modernistischen Tradition verknüpft, und mögen damit am ehesten eine vermeintliche Kontinuität durch lineare Erb- und Patenschaften suggerieren. Doch taugen gerade Arbeiten wie diese dazu, jene schlichte Dichotomie zwischen Realistik und Abstraktion in Frage zu stellen, die heute kein haltbares Modell mehr sein kann, um (bildnerisches) künstlerisches Arbeiten durch ein einfaches Raster einzuteilen.

1  Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1910), Bern o. J.; Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Dresden: Verlag der Kunst 1996

2  Jutta Held, ›Minimal Art – eine amerikanische Ideologie‹ (1972), in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden: Verlag der Kunst 1995, S. 453, 458

3  Lambert Wiesing, ›Abstrakte Fotografie. Denkmöglichkeiten‹, in: Gottfried Jäger (Hg.), Die Kunst der Abstrakten Fotografie, Stuttgart 2002, S. 84f.

4  Dieser Text konzentriert sich auf einige Beispiele, die letztlich in der Tradition des Konstruktivismus stehen; formal ließen sich (neben den monochromen Arbeiten als einer ›Unterabteilung‹ der ersteren Gruppe) auch noch Exponate aus der zweiten großen Ahnen-Linie abstrakter Tradition zusammenfassen, die in einer organischen bzw. expressiv-biomorphen Formensprache arbeiten.

5  Zur Vorgeschichte geometrischer Abstraktion siehe Rosalind E. Krauss, ›Raster‹ (1979), in: Dies., Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. von Herta Wolf, Dresden: Verlag der Kunst 2000, S. 51–66

6  Martin Prinzhorn, ›Bilder der Vermessung, Zeichen, die sich selbst bedeuten‹, in: Esther Stocker, Malerei/ Painting/ Pittura 1997–2002, hg. von Galerie Krobath Wimmer, Wien: Triton Verlag 2002, o.P.