Surrealist aus Gelegenheit, Modernist aus Passion. Brassaï (1899–1984)

Rezension der Ausstellung: Brassaï, Albertina Wien, 21.6.–21.9.2003. Publiziert in: Camera Austria 83/2003, Graz, S. 77

BRASSAÏ, hg. von Alain Sayag und Annick Lionel-Marie, mit Texten Ders. sowie von Brassaï, Gilberte Brassaï, Roger Grenier, Henry Miller, Jacques Prévert, Kat. Albertina, Wien: Verlag Christian Brandstätter 2003

Vor einigen Jahren bedachte Gilberte Brassaï die Kunstsammlung im Pariser Centre Pompidou mit 200 Werken ihres 1984 verstorbenen Mannes. Damit wurden die dortigen Brassaï-Bestände nicht nur um Originalabzüge und Dokumente, sondern auch um Zeichnungen und Skulpturen maßgeblich ergänzt. In Folge konnte man dem 1899 als Gyula Halász geborenen Künstler gerade rechtzeitig zu seinem hundertsten Geburtstag eine ›erste echte Retrospektive‹ widmen. Diese umfassende Ausstellung wurde nun in etwas eingeschränktem Umfang von der Wiener Albertina übernommen. Auch der kiloschwere Katalog, der in deutscher Übersetzung neu aufgelegt wurde, befasst sich neben dem fotografischen Werk Brassaïs mit seinen weniger beachteten bildnerischen und literarischen Arbeiten.

Nach Kunststudien in Budapest und Berlin lebte Brassaï ab 1924 als Journalist in Frankreich, wo er 1929 als Autodidakt zu fotografieren begann, um seine Reportagen für populäre Magazine zu illustrieren. Wichtige Impulse erhielt er anfangs von Eugène Atget und André Kertész, seine Themen fand er in der Alltags- und Subkultur städtischen Lebens. Besonders seine Nachtfotografien, die er 1933 als Fotobuch Paris de nuit veröffentlichte, machten ihn bekannt. Bald publizierten die Surrealisten seine Fotos in ihren Zeitschriften (v.a. in Minotaure) und Büchern (etwa in L’Amour fou von André Breton). Ohne dass er sich selbst der Gruppe zugehörig fühlte, verdankt Brassaï seine Berühmtheit vor allem diesem Verhältnis zum Surrealismus – desgleichen verdankt die postmoderne Fototheorie diesen Zusammenhängen einige ihrer überzeugendsten Thesen zum Zeichencharakter fotografischer Bilder (von Rosalind Krauss und Craig Owens). Praktisch alle Bilder Brassaïs, an denen diese Thesen erarbeitet wurden, finden sich in der Ausstellung wieder.

BRASSAÏ, Liebespaar in einem kleinen Café, Quartier Italie, um 1932

Allerdings wird auch versucht, eine Einordnung seiner fotografischen Arbeiten als surrealistisch zu relativieren. Diese Abgrenzung wird nicht nur durch Aussagen des Künstlers gestützt – etwa wenn er Man Rays Solarisationen als kindischen Spaß abtut oder André Bretons autoritäre Art kritisiert –, sondern verdeutlicht sich vor allem mit Blick auf sein Gesamtwerk: Dieses weist ihn als einen Künstler aus, der stärker an der wesenhaften Form hinter ephemerer Erscheinung und universalen, biomorphen Beziehungen interessiert war, als an jenen metamorphotischen Zwischenwelten, die den repräsentationskritischen Surrealismus prägen. Seine wichtigsten Bezugspunkte waren nicht Sigmund Freud oder Breton, sondern J. W. Goethe und Pablo Picasso (erst später, als Brassaï selbst kaum mehr fotografierte, auch Marcel Proust).

Dies lässt sich etwa an Brassaïs Interpretation des weiblichen Aktes zeigen, in karrikaturhaften Zeichnungen und in Kieselsteinskulpturen, die sich phalloiden Formen annähern; weiters in den Gravuren auf belichteten Fotoglasplatten (›Transmutationen‹, 1934/5), die stilistisch und im Motivrepertoire Picassos spätkubistische Collagen aufgreifen und in denen die grafische Arbeit die Fotografie verdrängt. Was immer man von diesen bildnerischen Arbeiten (z. B. aus feministischer Sicht) halten mag, sie eröffnen einen neuen Blick auf Brassaïs Fotografie. Er selbst schreibt: ›Zwar enthüllt auch die Fotografie, dieses Inbild der Selbstverleugnung, die Persönlichkeit, doch stets indirekt, über den Dolmetsch einer dazwischengetretenen Welt. Aus diesem Grund habe ich ihr den Vorzug gegeben. Doch kann Sie unseren ganzen Hunger, unseren ganzen Durst stillen?‹ (S. 214).

Der Zwiespalt zwischen einer unbedingten Verpflichtung an das Motiv (die authentische Darstellung zeitgenössischer Lebenswelt) und dem Ringen um die bedeutungskonstituierenden Anteile des Mediums (die zugleich die Autorschaft garantieren sollen), zeigt sich in Brassaïs Arbeitsweise: Häufig stellte er die Szenen für seine Alltagsreportagen nach, teilweise mit Komparsen; aus seinen Aufnahmen wählte er erst bei der Postitivausarbeitung die – oft sehr voneinander und vom Negativ verschiedenen – Ausschnitte. Vielleicht am offensichtlichsten wird das Wechselspiel zwischen dokumentarischem Anspruch und gestalterischen Ambitionen bei einem archäologisch-archivarischen Projekt, das ganz ohne Zweiterem auszukommen scheint.

BRASSAÏ, Graffiti, aus der Serie VII: ›la Mort‹, 1933–1956

So bediente sich Brassaï von 1933 bis 1956 der Fotografie, um Graffitis zu dokumentieren. Diese, fast sein gesamtes Fotoœuvre umspannende, Serie wird in einem Raum präsentiert, der den Rundgang durch die Ausstellung eröffnet und zugleich beschließt. Die anonymen Mauerzeichnungen sind einfache Piktogramme, die meist in den Putz gekratzt wurden. Brassaï erfasste sie nahsichtig und klassifizierte thematisch (Tod, Magie, Liebe...), in Publikationen wurden mehrere Einzelmotive oft zu einer zusammenhängenden Bildtafel montiert. Hier kristallisiert sich die indexikalische Spur in mehrfacher Potenz, nicht unbedingt aber in der Aufzeichnung von Flüchtigkeit; vielmehr vermeint sich Brassaï in unbewusst produzierter Alltagspoesie auf den Spuren des Ursprungs von Schrift und Mythologie und erkennt Verwandtschaften zur ›Urangst‹ der Höhlenmenschen (S. 292). Der große Wurf seiner Interpretation ist freilich nur durch das fotografische Paradigma der Entkontextualisierung möglich, durch das der Autor seinen Bildern von der Welt sein Weltbild erst einschreiben kann.