Schwellen der Sichtbarkeit, nächtliche Nicht-Orte. ›Nachtland‹ von Emanuel Raab

Rezension der Neuerscheinung im Kehrer Verlag Heidelberg, 2002. Publiziert in: FOTOGESCHICHTE. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 89/2003, 23. Jg., Marburg: Jonas Verlag, S. 61–63

EMANUEL RAAB: NACHTLAND, mit einem Text von Peter Weiermair, Heidelberg: Kehrer Verlag 2002

Der Fotoband Nachtland präsentiert 37, lediglich durch fortlaufende Nummern bezeichnete, jeweils randlos und rekto-seitig gedruckte Farbaufnahmen im Querformat. Diese zeigen anonyme Bürogebäude, Lagerhallen, Parkplätze und andere menschenleere, aber niemals ›naturbelassene‹, Orte. Emanuel Raab (geb. 1957) fotografierte nachts oder in der Dämmerung bei sog. available light und nahm dabei die vorhandenen Leuchtkörper häufig selbst mit ins Bild. Da er bei seinen Langzeitbelichtungen auf Filter verzichtete, wirkten sich auch die farblichen Effekte der unterschiedlichen Kunstlichtquellen auf den Diafilm aus (sie äußern sich meist in Gelb-, Grün- oder Rotstichigkeit).

Fotografie #01 scheint zunächst recht untypisch für das Folgende, denn sie zeigt ein vergleichsweise idyllisches, privates Gartenhäuschen im Jägerhüttenstil. Allerdings finden sich bereits in diesem ersten Bild Anklänge jener Aspekte, die an Emanuel Raabs Nachtland interessanter sind, als sein Beitrag zu einer Ikonografie poetisch aufgeladener Nicht-Orte, in der sich zeitgenössische Fotografie von vergleichbarer Thematik mitunter erschöpft. Das Motiv verweist auf Raabs vorangegangene Publikation mit dem Titel /heimat.de (Verlag der Kunst, Dresden 2000); diese differenzierte fotografische Auseinandersetzung mit einem prekären Begriff deutscher Kultur hatte u.a. die Anonymisierung von Lebensraum oder die Normierungen von öffentlichem und privatem Raum gezeigt.

EMANUEL RAAB, Ohne Titel, #01 aus ›Nachtland‹, 2002. Lambda-Print, 80 x 120 cm

In #01 manifestieren sich soziokulturelle Dimensionen wohl in drei gleißend-strahlenden Fenstern des Häuschens. Als einzige Lichtquellen der Aufnahme leuchten diese gelben Zellen nur wenig Umgebung aus, primär erhellen sie ihre eigene Struktur: Vor den Scheiben heben sich Fensterkreuze ab und überall sind zusätzlich Metallgitter angebracht, sei es um drin-lebende Katzen oder eindringende Diebe zu halten. Das blendende Licht erlaubt also keinen Einblick, sondern markiert eine undurchdringliche Grenze zwischen einem geschlossenen, warm anmutenden Inneren und einem weiten, dunklen Außen. Hier lässt sich ein Thema von Nachtland ausmachen: Es geht häufig um Grenzen, Schwellen oder Beschränkungen – des Blicks wie des Zugriffs. Schon auf der ikonografischen Ebene finden sich dazu zahlreiche Beispiele, wie Glasfassaden, Fenster- und Türöffnungen, Zäune (#08, 18, 19, 26, 34) und Schranken (#02, 20); darunter auch seltenere Formen von Durchlässen, wie die Schleusentore einer Lagerhalle zum Beladen von Lkws mit schwarzen Gummivorhängen zur Abdichtung der Passage (#06).

Am folgenden Foto #02 bedeckt amorphes, graubraunes Gewölk den Großteil der Bildfläche, auf der sich auch bunte, ringförmige Linsenreflektionen abzeichnen. Es handelt sich offenbar um Gebüsch oder Laub in Kameranähe, das an wenigen Stellen den Blick auf ein beleuchtetes Gebäude im fokussierten Hintergrund frei gibt. Erst nach längerer Betrachtung lässt sich eine Eingangssituation mit Schranken und Wachpersonal entdecken. Die Aufnahme zeigt also eine doppelte Beobachtung, indem sie mit dem Bewachungsszenario auch die Aufnahmesituation, den Blickwinkel des Bildautors, abbildet.

EMANUEL RAAB, Ohne Titel, #02 aus ›Nachtland‹, 2002. Lambda-Print, 80 x 120 cm

Indikatoren für die Bedingungen der Aufnahme bzw. den Standort des Fotografen (oft eine Position im Dunkeln) finden sich in vielen Fotografien von Nachtland; als solche fungieren etwa unscharfe Repoussoire-Motive, wobei die springende Schärfe die räumliche Distanz zwischen Kamerastandpunkt und fokussiertem Blickpunkt deutlich macht. In einem besonders eindringlichen Beispiel (#07) überzieht unscharf sichtbarer Maschendraht den gesamten Bildausschnitt; dahinter führt eine schwarze Silhouette von gestapeltem Material ins Bildzentrum, wo blendend helle Leuchtröhren eine bedrohliche Szenerie aus hermetisch geschlossenen Lagerhallen und plastikbedecktem Lagergut in grünlichem Licht erscheinen lassen. Jedenfalls ist das Themenfeld der Kontrollfunktion von Kunstlicht zur Überwachung und Eigentumsicherung in mehreren Arbeiten gegeben; der bildkonstituierende Blick des Fotografen ist dabei auf eine Weise präsent, die Assoziationen an Industriespionage und Greenpeace-Aktivismus weckt (#26, 37).

Ein weiterer Aspekt der Darstellung nächtlichen Kunstlichtes sowie der dadurch kontrollierten und konstruierten Räume lässt sich anhand des folgenden Bildes #03 erläutern: Es zeigt eine Ecke, wahrscheinlich an der Rückseite einer Tankstelle, darin einen kleinen Betonsockel mit Straßenlaterne, Staubsaugerstation, Mülltonne und Abflusskanal, alles in penibler Ordnung. Ein perfektes, modellhaftes Setting, wie in einem Fotostudio aufgebaut und ausgeleuchtet. An den Schlagschatten der Laterne lassen sich die Einfallswinkel jener Lichtquellen präzise ablesen, die dieses Arrangement (mit)entwerfen, am Boden zeichnet sich deutlich der Lichtverlauf ab. Indem hier Ausleuchtung prononciert vorgeführt wird, werden auch genuin fotografische Paradigmen angesprochen, wie etwa die Bildkomposition durch die Wahl eines Ausschnitts aus dem Wirklichkeitskontinuum, der im Bildformat zur geschlossenen Einheit werden kann.

EMANUEL RAAB, Ohne Titel, #03 aus ›Nachtland‹, 2002. Lambda-Print, 80 x 120 cm

Denn diese basale Bedingung fotografischer Bildproduktion erfährt in ›straighter‹ Nachtfotografie eine besondere Zuspitzung: Durch die Abhängigkeit von vorhandener Beleuchtung im schwindenden Umgebungslicht ist eine Vorauswahl getroffen, ein Ausschnitt aus dem Dunkel. Freilich kann dieses Szenario dann vom Fotografen weiter beeinflusst werden, beispielsweise kann die Belichtungszeit ausgedehnt werden, bis am Foto scheinbare Taghelle herrscht. In Raabs Bildern bleibt die Nacht aber immer als Schwärze jenseits der Lichtkegel lesbar, und er bleibt damit beim Thema der Sichtbarkeitsschwellen, das sich übrigens ebenso im bewussten Einsatz von Unschärfe in seiner Bildgestaltung zeigt.

In der Farbfotografie kommt bei Nacht- bzw. Kunstlichtaufnahmen ein weiterer Moment hinzu, in dem sich spezifische Abbildungsprozesse der fotografischen Apparatur abzeichnen: Die verschiedenen Farbtemperaturen unterschiedlicher Lichtquellen (Glühlampe, Leuchtstoffröhre ...) und emulsionsbedingte Effekte schlagen sich in Farbverschiebungen nieder. Der Abstraktionsprozess fotografischer Abbildung wird damit exponiert, er erscheint deutlich in seiner artifiziellen, in diesem Falle chemischen, Bedingtheit. Eines der Hauptanliegen bei der Entwicklung von Farbfotografie – der Natur oder visuellen Wirklichkeitserfahrung näher zu kommen – verkehrt sich ins Gegenteil. Derartige Verfremdungseffekte finden sich in Nachtland in nahezu jeder Aufnahme, wobei die golden schimmernde Oberfläche eines Betonrohbaus (#15), ein grasgrüner Himmel (#09), eine kräftig orangerote Fassade (#22), und eine unglaubliche, in vielen Pastellfarben schillernde Parkplatzecke (#27) herausragen.

EMANUEL RAAB, Ohne Titel, #27 aus ›Nachtland‹, 2002. Lambda-Print, 80 x 120 cm

Die hier konstatierten Themen finden sich (neben anderen) in verschiedener Gestaltungstendenz und Atmosphäre im gesamten Band. Bemerkenswert ist die Bildabfolge, die narrative Sequenzen vermeidet und stattdessen auf formale Kontraste und Variationen setzt. Die Bandbreite der Gestaltung reicht von streng geometrischen, farblich subtil ausbalancierten Kompositionen mit einer Tendenz zum abstrakten Flächenmuster bis zu dramatischen oder sehr stimmungsvollen Szenarien im Dämmerlicht, die verschiedene Assoziationsräume öffnen. Dabei gehört es zu den Qualitäten von Raabs Arbeit, seine Fotografie in keiner der beiden Möglichkeiten vollständig aufgehen zu lassen; in den besten Arbeiten sind vielmehr beide Neigungen produktiv verschränkt. Wie Peter Weiermair in seinem knappen Begleittext ausführt, ist es eine ›multiple Lesbarkeit‹, sowohl in formaler als auch ikonografischer Hinsicht, die diese Serie auszeichnet.

Ein zentrales fotografisches Gestaltungsinstrument, das Raab einsetzt um multiple Lesbarkeit zu erreichen, ist Fragmentierung – nun allerdings in einem etwas anderen Sinn als oben angesprochen: Praktisch in keiner Aufnahme ist der weitere topografische Kontext im Bild erfasst; Fassaden und Baukörper sind häufig stark angeschnitten; der räumliche oder (sub-)urbane Zusammenhang ist weitgehend ausgeklammert. Im Mittelpunkt steht also meist nicht das (architektonische) Motiv in seiner städtebaulichen Umgebung, sondern ein Blickwinkel in seiner fragmentierenden Sicht auf ein Motiv. So kommen Grenzen und Schwellen mit aufs Bild, entweder als Sujet oder als implizit abgebildete, blick-konstituierende Blende; als Gestaltungselemente betonen sie den artifiziellen Charakter fotografischer Wirklichkeitsaneignung.

EMANUEL RAAB, Ohne Titel, #05 aus ›Nachtland‹, 2002. Lambda-Print, 80 x 120 cm

In Aufnahme #05 stellt Raab Sichtbarkeitsgrenzen bzw. -schwellen auf eine Weise dar, die abseits von gegenständlicher Fragmentierung bzw. Entkontextualisierung und abstrahierender Flächenkomposition funktioniert. Eine brachliegende Grünfläche im Zwickel mehrerer Wege liegt entweder an einem Hang oder wurde aufsichtig aus einiger Distanz aufgenommen. Abgesehen von einem hellgrün reflektierenden Baum ist die gesamte Bildfläche ausgesprochen dunkel, viele Details bleiben im Ungewissen. Im Bildzentrum erstreckt sich ein schwach ausgeleuchtetes, an den Rändern sanft auslaufendes ›Sichtfeld‹. Es lässt allerdings Strukturen mehr erahnen als erscheinen; langsam meint man Spuren, nieder getretenes Gras, zu erkennen. Hier zeigt sich eine weitere Dimension von ›Dämmerungsfotografie‹: Die Prozesse des Erkennens, das Herausschälen bzw. Verschwinden gegenständlicher Formen, ihr sukzessives Auf- bzw. Abtauchen in der Dunkelheit werden thematisiert. Damit erweist sich Emanuel Raabs Nachtland als ein vielschichtiger Katalog, der verschiedene Blenden und Schwellen von Sichtbarkeit mittels Fotografie reflektiert – also sowohl mithilfe fotografischer Mittel als auch gebrochen durch das Medium und seine nicht nur technisch-apparative Bedingtheit.