›Lebendiges Sehen‹ und Naturfotografie. Studien zu den Landschaftsaufnahmen und fototheoretischen Schriften von Raoul Hausmann 1930–1933

Resümee der Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie, betreut von Prof. Dr. Friedrich Teja Bach/Institut für Kunstgeschichte, vorgelegt der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, approbiert im November 1997 (Aufsatz in Vorbereitung)

Raoul Hausmann (1886–1971) ist vor allem als Protagonist der Berliner Dada-Bewegung, für seine Lautgedichte und Fotomontagen bekannt. Die hier resümierte Diplomarbeit widmet sich jedoch einer Gruppe von rund 130 seiner Fotografien, die in den Sommermonaten 1931 und 1932 an der Ostseeküste im damaligen Pommern entstand. Gemessen an der Vielfältigkeit sowie am Umfang des Gesamtoeuvres – Hausmann arbeitete als Maler, Typograf, dadaistischer Aktionist, Fotomonteur, Modeschöpfer, Erfinder, Literat, Tänzer und schrieb eine Reihe von kulturphilosophischen Essays – ist dies eine relativ kleine Werkgruppe. Innerhalb seiner fotografischen Arbeiten kommt diesen Aufnahmen allerdings ein besonderer Stellenwert zu: Sie stehen im Zentrum jener wenigen Jahre, in denen sich Hausmann explizit als Fotograf sah, sich auch theoretisch mit Fotografie beschäftigte und nachdrücklich um die Veröffentlichung dieser Arbeiten bemüht war. Mit seiner Flucht aus Deutschland im Jahr 1933 mussten viele dieser Aktivitäten ein vorläufiges Ende oder zumindest eine neue Ausrichtung finden.

RAOUL HAUSMANN, Kurven, 1931/32. Silbergelatineprint. Courtesy: Berlinische Galerie, Berlin. Kat. Gegen den kalten Blick der Welt, S. 45

Innerhalb der fokussierten Werkphase konzentriert sich die Studie auf das Genre der Landschaft, das neben dem Porträt Hausmanns wichtigstes fotografisches Motiv zu dieser Zeit darstellte. Besonders anhand der Naturfotografien erarbeitet Hausmann in Theorie und Praxis spezifische Probleme seiner Fotoästhetik, in der Fotografie ›vor allem als das technische Problem der Inszenierung unserer optischen Antriebe‹1 verstanden wird. Sein zentrales Thema ist nicht das Foto als gestaltetes Abbild, sondern das ›Fotografische Sehen‹, die Relaisstelle zwischen Natur-Wahrnehmung und fotografischer Naturaufzeichnung.

Die untersuchten Fotografien wurden in größerer Gruppe bekannt, als sie im Zuge der Aufarbeitung des Hausmann-Nachlasses unter dem 1933 in Berlin zurückgelassenen Material als ein Konvolut von Original-Abzügen (Vintageprints) auftauchten.2 Im Katalog der Ausstellung von 1986 im Wiener Museum für Moderne Kunst wurde eine Reihe der Aufnahmen erstmals publiziert sowie in den Aufsätzen von Monika Faber und Andreas Haus fotohistorisch bearbeitet.3 Diesem Projekt folgte lange Zeit keine weitere eingehende Auseinandersetzung mit Raul Hausmanns fotografischer Arbeit. Zu seinen Naturfotografien wurde bis zum Abschluss der Recherchen im Sommer 1997 nur mehr ein Aufsatz publiziert.4 Diese Forschungslage legte es nahe, den kunsthistorischen und konzeptuellen Zusammenhängen dieser Werkgruppe auf breiter Basis nachzugehen.

RAOUL HAUSMANN, Nordsee (Sylt), 1931/32. Silbergelatineprint. Courtesy: Berlinische Galerie, Berlin. Kat. Gegen den kalten Blick der Welt, S. 47

Im ersten Kapitel der Arbeit wird die Kameraausrüstung Hausmanns vorgestellt, um die technischen Aspekte seiner fotografischen Praxis zu erläutern. Eine Darstellung des fototechnischen Entwicklungsstandes sowie des Marktangebotes in der Weimarer Republik erlaubt erstmals eine fundierte Einschätzung der pragmatischen Entstehungsbedingungen seiner frühen Fotografien.

Mit Blick auf die historischen Bedingungen im Galerie-, Publikations- und Ausstellungswesen Anfang der 1930er Jahre folgt eine Dokumentation der Aktivitäten Hausmanns, seine Fotografien zu ›vermarkten‹ oder innerhalb der gegebenen Möglichkeiten des damaligen ›Kunstbetriebes‹ zu veröffentlichen. Die Darstellung dieser in der Forschungsliteratur bislang wenig beachteten Hintergründe verdeutlicht den spezifischen Status Hausmanns als ›Fotograf jenseits von institutioneller Absicherung‹. Da Hausmann in der kurzen Zeit vom Ende der 1920er Jahre bis 1933 kaum Erfolg als Fotograf beschieden war, stützen sich die Ausführungen nicht nur auf publiziertes Material, sondern auch auf zahlreiche Briefe aus dem Raoul-Hausmann-Archiv der Berlinischen Galerie, aus denen weitere Projekte und Arbeitsfelder Hausmanns deutlich werden.

RAOUL HAUSMANN, Juli 1931. Silbergelatineprint. Courtesy: Berlinische Galerie, Berlin. Kat. Gegen den kalten Blick der Welt, S. 83

Die Kooperationsbereitschaft des Berliner Hausmann-Archivs ermöglichte auch eine eingehende Beschäftigung mit den Vintageprints, ohne die diese Arbeit kaum hätte entstehen können. So war die Sichtung des Gesamtkonvolutes der Abzüge, einschließlich aller Fassungen in verschiedenen Beschnitten und Papieren einer jeweiligen Aufnahme im Originalabzug, überaus förderlich. Hilfreich war in dieser Hinsicht auch die ausdauernde Bereitschaft des Archivars der Hausmann-Negative aus dem französischen Nachlass, Roger Vulliez, Kopien von Abzügen und Negativen auf dem Postweg zu tauschen. So konnten mehrfach die Negative zu den Berliner Abzügen gefunden werden, woraus ersichtlich wurde, welchen Ausschnitt Hausmann für seine Abzüge wählte.

Die Ergebnisse dieser Recherchen werden in einem Beschreibungskatalog vorgestellt, der etwa ein Drittel des Gesamtkonvolutes der Berliner Vintageprints umfasst; sie werden unter den Kategorien Meeresstrand/Wellen, Feld/Acker, Dünen/Sand, Torf/Sumpf und Dickicht/Pflanzen in aufnahmetechnischer sowie formalästhetischer Hinsicht analysiert (Ausschnitt, Kamerawinkel, Tiefenschärfe, geometrische Bildstruktur, Hell-Dunkel-Verteilung). An diesen beschreibenden Teil schließt sich die Erläuterung der Forschungslage zur Fotografie Hausmanns.

RAOUL HAUSMANN, Vordüne bei Saleske, Juni 1932. Silbergelatineprint. Courtesy: Berlinische Galerie, Berlin. Kat. Gegen den kalten Blick der Welt, S. 68

Das dritte und umfangreichste Kapitel erarbeitet anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit der entsprechenden Fachliteratur (etwa von Roland Barthes, Bernd Busch, Gert Mattenklott, Wolfgang Kemp, Rosalind Krauss, u.v.a.) einen theoretischen Bezugsrahmen, um die fotografische Position Hausmanns kunsthistorisch einzuordnen. Es folgt eine detaillierte Analyse der Fototheorie Raoul Hausmanns anhand des Artikels ›Wie sieht der Fotograf?‹, den er 1932 verfasste und in verschiedenen Fassungen publizierte. Die beiden Bezugsfelder des ›Fotografischen Sehens‹, die Naturaufzeichnung und die Wahrnehmung in der Natur werden zunächst in zwei Exkursen getrennt behandelt: Dabei kommen im ersten Exkurs auch eine Reihe von wahrnehmungstheoretischen und medien- bzw. bildtheoretischen Problemen zur Sprache, die sich aus der Lektüre von ›Wie sieht der Fotograf?‹ ergeben. Im zweiten Exkurs wird die von Hausmann in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theoremen des ›Allgemeinen Sehvorganges‹ entwickelte Fotoästhetik herausgearbeitet.

RAOUL HAUSMANN, Salesker Düne, Juni 1932. Silbergelatineprint. Courtesy: Berlinische Galerie, Berlin. Kat. Gegen den kalten Blick der Welt, S. 61

Schließlich werden jene ästhetischen Merkmale seiner Fotografien, die im Beschreibungskatalog herausgearbeitet wurden, mit den Lehrsätzen seiner (foto-)ästhetischen Schriften konfrontiert. Dabei wird gezeigt, wie Hausmann im Medium der Naturfotografie seine Vorstellungen von Wahrnehmung und Gestaltung zusammenführt. Zentral für seine Anregungen zur Bildkonzeption sind Bestimmungen wie ›primärer Blickpunkt‹, ›Blickführung‹, ›Formdialektik‹ und ›transitorische Blickwanderung‹, die auf seinen Überlegungen zu visuellen Wahrnehmungsmustern beruhen. Eine auf dieser Basis aufgenommene Fotografie soll bei der Betrachtung zu einem dem Sehvorgang im Naturraum analogen Prozess anregen, zu einem ›lebendigen Sehen‹, das sich ›in fortwährendem Hin- und Hergleiten, Herausschälen oder Unterdrücken von Massen, Richtungen, Hell und Dunkel‹ konstituiert.

RAOUL HAUSMANN, Ohne Titel, 1931. Silbergelatineprint. Courtesy: Berlinische Galerie, Berlin. Kat. Gegen den kalten Blick der Welt, S. 97

Zum Abschluss wird Hausmanns fotografische Position vergleichbaren Fotoarbeiten im Spannungsfeld von ›Neuer Sachlichkeit‹ und ›Neuem Sehen‹ gegenübergestellt. Besonderes Augenmerk wird auf den Anspruch auf Sinnesschulung gelegt, wie er auch von zeitgleichen Kunst- und Künstlertheorien gefordert wurde. Im Vergleich mit den vorherrschenden Ansätzen der Betonung abstrakter Strukturen und stofflicher Oberflächenqualitäten (Neue Sachlichkeit) sowie bizarren Perspektiven, Ausschnitten und Momentaufnahmen (Neues Sehen) wird die singuläre fotoästhetische Position Hausmanns in ihrer Zeit deutlich.

Allerdings blieb diese hinsichtlich ihrer Verbreitung und Wirkung vergleichsweise erfolglos und musste hinsichtlich ihres aufklärerischen Anspruchs in letzter Konsequenz auch unrealisierbar bleiben. Er misstraute der erzieherischen Wirkung von ungewöhnlichen Seh-Erlebnissen genauso wie dem umfassenden Erkenntnisgewinn von ›Strukturen-Sehen‹; anstatt an der Verbildlichung eines ›Neuen Sehens‹ arbeitete er an der Bewusstmachung des ›alten‹ Sehens – ein freilich weitaus unspektakuläreres Projekt, dessen Grenzen ebendort angesiedelt sind, worauf es zielt: auf die im menschlichen Bewusstsein angelegte Differenz zwischen sinnlicher Wahrnehmung und der Reflexion ihrer Bedingungen – ein ›theoretischer‹ Konflikt, der an der Gleichzeitigkeit von Erleben und Wissen scheitert und ebenso unlösbar bleiben muss, wie die Utopie einer universellen Souveränität von Erfahrung.

1  Raoul Hausmann, ›Die moderne Fotografie als geistiger Prozess‹ (o. J., aus dem Nachlass in Limoges), in: Raoul Hausmann. Fotoarbeiten: Fotografien – Fotomontagen – Fotogramme – Fototexte, hg. von Floris M. Neusüss, Kat. Goethe Institut, München 1993, S. 24.

2  Gegen den kalten Blick der Welt. Raoul Hausmann. Fotografien 1927–1933, hg. von Hildegund Amanshauser und Monika Faber, Kat. Österreichisches Fotoarchiv im Museum Moderner Kunst, Wien 1986.

3  Andreas Haus, ›’Das Umspültsein des Menschen von Raum und Zeit’. Raoul Hausmanns Fotografien von 1931/32‹, in: Gegen den kalten Blick der Welt, a. a. O., S. 7–17 sowie Monika Faber, ›Bewegtes Sehen, ruhiger Blick. Zu den Landschaftsaufnahmen Raoul Hausmanns 1931/32‹, in: Gegen den kalten Blick der Welt, a. a. O., S. 19–24.

4  Jean-Francois Chevrier, ›Die Beziehungen des Körpers‹, in: Der deutsche Spießer ärgert sich. Raoul Hausmann 1886–1971, Kat. Berlinische Galerie, Museum für Moderne Kunst, Photographie und Architektur im Martin-Gropius-Bau Berlin, Stuttgart 1994, S. 68–101.