Kontext-Kollision. Sowjetische Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre

Rezension der Ausstellung ›Sowjetische Fotografie der 1920er und 1930er Jahre. Von Piktorialismus und Modernismus zum Sozialistischen Realismus‹, Historisches Museum der Stadt Wien, 12.9.–20.10.2002. Publiziert in: Camera Austria 80/2002, Graz, S. 89f.

Die in Kooperation zwischen dem Historischen Museum der Stadt Wien (Susanne Winkler) und Haus der Fotografie in Moskau (Olga Swiblowa) konzipierte Ausstellung von Fotografie aus den ersten Jahrzehnten der Sowjetunion versucht eine Akzentverschiebung: Gezeigt werden einerseits die zu erwartenden Arbeiten von Alexander Rodtschenko, Boris Ignatowitsch, Max Penson oder Georgi Petrussow, also Vertretern jener Tendenz, die sich aus der Avantgardebewegung entwickelte und die offizielle Propaganda bis in die Dreißiger maßgeblich prägte.

BORIS IGNATOWITSCH, Stufenlose Treppen in einem Studentenheim, 1931/32

Demgegenüber stammt etwa die Hälfte der Exponate von heute weniger bekannten Fotografen wie Alexander Grinberg, Juri Jeremin oder Wassili Ulitin, die dem Piktorialismus zugeordnet werden. Die Ausstellung ist monografisch gegliedert und präsentiert insgesamt zehn Mini-Personalen. Diese umspannen jeweils einen Zeitraum von durchschnittlich zwölf Jahren (meist 1924–1936) und zeigen fast ausschließlich Silbergelatine-Vintageprints. Eine konzentrierte Streuung eröffnet somit ein dichtes Bild einer Epoche, das, gleichwohl fotohistorisch keineswegs unterbelichtet, das Bekannte mit Neu- und Wiederentdeckungen in Bezug setzt.

ALEXANDER GRINBERG, Weiblicher Akt, 1930er

Diese Konfrontation von russischer Kunstfotografie und sowjetischer Propagandafotografie erscheint zunächst als ein Lehrbeispiel zur ›Synchronizität des Ungleichzeitigen‹. Die Heterogenität von Studiofotografie und Fotoreportagen, symbolistischen Landschaften und genossenschaftlicher Feldarbeit, verschwommenen, sanft ondulierenden Konturen und gekippten, fragmentierenden Perspektiven wirft allerdings einige Fragen auf: Wo gibt es Berührungspunkte der beiden Phänomene, die meist als aufeinander folgende bzw. einander ablösende Richtungen gesehen werden? Welche Entwicklungslinie bzw. welches Geschichtsbild wird von dieser Ausstellung – die den Untertitel ›Von Piktorialismus und Modernismus zum Sozialistischen Realismus‹ trägt – gezeichnet?

WASSILI ULITIN, Ohne Titel, 1930er

Die Geschichte der Fotografie der jungen Sowjetunion wie sie durch die jüngere Forschung erarbeitet wurde1, beginnt meist mit jenem Prozess der 1920er Jahre, in dem der abstrakte Konstruktivismus durch die fotografischen Medien als vorherrschendes Aufgabenfeld der Kunst abgelöst wurde. Um aktiv am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken, wurde auf der Basis der formalistisch-soziologischen Methode sowie der Idee der Produktionskunst eine neue fotografische Sprache entwickelt. Diese zeichnete sich nicht nur durch steile oder fragmentierende Blickwinkel aus, sondern vor allem durch neue Methoden der Montage und der massenmedialen Verbreitung.

ALEXANDER RODTSCHENKO, Lilja Brik, 1924. Collagierter Ausschnitt des Prints auf Tonpapier

Die Zeit während des ersten 5-Jahres-Planes ab 1927 darf als Höhepunkt jener experimentellen Faktografie (B. Buchloh) gelten, in der etwa Rodtschenko und Ignatowitsch ihre analytischen Fotosequenzen für Magazine entwickelten. Dieser ›Still-Fotografie‹ (O. Brik), die sich in engem Verband mit dem Dokumentarfilm sah, stand eine konventionellere Auffassung gegenüber, die mit geschlossenen Kompositionen und über identifikatorische Momente an narrativen Fotoessays arbeitete. Während des zweiten 5-Jahres-Planes ab 1932 setzte zunächst eine institutionelle, später auch künstlerische Vereinheitlichung, die Wende zur Mythografie (M. Tupitsyn), ein. Offiziell gefördert wurde nun eine ›monumentale‹ Fotografie, die in bühnenartigen Montagen (Fotofresken) oder Porträts möglichst eindeutige politische Inhalte transportieren sollte. Die sowjetische Großausstellung im Jahr 1937 machte schließlich deutlich, dass die Malerei des Sozialistischen Realismus die führende Rolle übernommen hatte. Die Fotografie sank in der Wertschätzung und wurde v.a. nach malerischen Kriterien beurteilt, was sich auch darin niederschlug, dass der fotografische Piktorialismus wiederentdeckt wurde.

JURI JEREMIN, Skulpturen an der Küste. Pestowskoje Reservoir, 1936

Nun erscheint fraglich, ob die komplexen Entwicklungszusammenhänge der sowjetischen Fotografie durch eine paritätische Gegenüberstellung von Piktorialisten und Modernisten darstellbar sind. Denn in der Ausstellung sind weder einzelne Richtungskämpfe, noch kulturpolitischen Agenden oder Zäsuren, und keine wechselseitigen stilistischen Einflussnahmen nachvollziehbar. Nicht nur, weil differenzierte Hinweise fehlen, sondern auch deshalb, weil die einzelnen Personalen nicht chronologisch geordnet sind, und somit stilistische Transformationen mehr verschleiert als deutlich werden. Zudem wird ein zentraler Faktor der Entwicklung, die Formen massenmedialer Verbreitung, für die ein Großteil sowjetischer Fotografie produziert wurde, ausgeklammert. Die von Rodtschenko und Ignatowitsch entwickelten Methoden des deframing (M. Tupitsyn) und der ›maximalen Kondensation‹ (Ignatowitsch) wären nur in den Bildzusammenstellungen bzw. in den Layouts der Magazine deutlich – als passepartouriert gerahmte Einzelbilder sehen diese Close-ups stattdessen wie Strukturstudien oder Beispiele für Straight Photography aus.

BORIS IGNATOWITSCH, Räder, 1930

Schließlich aber fehlen oft entscheidende Phasen der Œuvres, etwa Ignatowichs einflussreiche Reportagen von 1936, die einen signifikanten Stilwandel zum Sozialistischen Realismus darstellen. Im Gegenzug fehlen genauso die Hinweise darauf, in welchen Kontexten die piktorialistischen Fotografien der 1920er Jahre ausgestellt, verkauft oder rezipiert wurden. Konsultiert man die Kurzbiografien, taucht zwar mehrfach die Russische Gesellschaft für Fotografie auf, es werden aber an keiner Stelle weitere Erklärungen dazu gegeben. Da Referenzen auf die Ausstellungspraxis fehlen, ist auch jener kritische Punkt, an dem der Piktorialismus in den späteren 1930er Jahren eine Renaissance feierte, umgangen.

Ironischerweise spiegelt diese Ausstellung einen ganz bestimmten Umgang mit Fotografie wieder, rekonstruiert quasi unfreiwillig eine historische, kulturpolitische Praxis: So wurden in den späten dreißiger Jahren alle möglichen Stilrichtungen der Fotografie, also essayistische, formalistische Aufnahmen wie konventionellere Reportagefotos, Kunstfotografie usw. – meist als Einzelabzüge – in Großausstellungen präsentiert. Kritischere Auffassungen wurden durch die vereinheitlichende Präsentation einerseits entschärft, ›auf Parteilinie‹ gebracht, andererseits auch instrumentalisiert um eine vermeintliche Offenheit zu signalisieren.

LEONID SCHOKIN, Mäher, 1930er

Der Katalog führt die Konzeptlosigkeit der Präsentation fort. In den – sich teilweise wiederholenden – Einleitungstexten der Kuratorinnen werden lediglich die zwei Etikettierungen Piktorialismus und Avantgarde als Orientierungshilfe angeboten, die unter Hinweis auf den problematischen Allgemeinplatz eines ›zu sich kommenden Mediums‹ in Opposition gesetzt werden. Als das Gemeinsame der sowjetischen Fotografen wird vor allem die fototechnische oder handwerkliche Meisterschaft sowie das Leid durch die stalinistische bevormundende Gleichschaltung betont. Dass die jeweiligen Hintergründe der Übergriffe sowie die unterschiedlichen Reaktionen darauf auch an den Fotografien ablesbar sind (und nicht nur an tragischen Schicksalen), hätte man hier gerne wenigstens an einigen Beispielen vorgeführt bekommen.

ALEXANDER RODTSCHENKO, Szene aus der Oper ›Ruslan & Ludmilla‹ im Bolschoi-Theater, 1937

Lediglich Eckdaten des Zeitraums werden sehr allgemein erwähnt. Dabei stünde es einem Museum, das die Historie schon im Namen führt, wohl an, die sich in diesen Jahren ändernden machtpolitischen Bedingungen der Foto- und Kunstproduktion näher zu erläutern und die prägenden Zeitschriften, Vereine und Ausstellungen wenigstens in Zeittafeln vorzustellen. Die grobmaschigen Begrifflichkeiten und unpräzisen historischen Referenzen sind vor allem so bedauerlich, weil es zum Thema eine Fülle von Forschungsliteratur und Ausstellungskatalogen gibt, wovon nichts Erwähnung findet.

Wenig hilfreich auch der Text von Alexander Lawrentjew, der letztlich an der Oberfläche dahinschlittert (›Die Rechten waren schlecht, weil sie Bewacher der Traditionen waren. Die Linken galten als Putschisten. Dennoch hat die Geschichte gezeigt, dass die tiefgreifenden Entwicklungen der Fotografie weder ohne die einen noch ohne die anderen möglich gewesen wären‹.) Immerhin macht Lawrentjew den entwicklungsgeschichtlichen Schlüssel des Projektes explizit. Die Zusammenhänge, die der Untertitel der Ausstellung implizit banalisiert, werden bei ihm zu einer schlichten Pendel-Bewegung, die jedem dialektischen Materialisten den Boden unter den Füssen entzogen hätte: ›Von A nach B und wieder zurück‹.

1  David Elliott (Hg.), Russische Photographie 1840–1940, Berlin 1992; rezensiert von Herta Wolf in: Fotogeschichte, Heft 55, Frankfurt/M. 1995, S. 77-80. M. Tupitsyn, Ute Eskildsen (Hg.), Glaube, Hoffnung, Anpassung. Sowjetische Bilder 1928–1945, Essen 1995. Margarita Tupitsyn, The Soviet Photograph 1924–1937, Yale Univ. Press 1996. Leah Bendavid-Val (Hg.), Photographie und Propaganda. Die 30er Jahre in den USA und der UdSSR, Zürich 1999.