Meilensteine eines Genres. Zu ›Open City. Street photographs since 1950‹

Rezension der Neuerscheinung bei Hatje Cantz 2001. Publiziert in: Camera Austria 79/2002, Graz, S. 88f.

OPEN CITY. STREET PHOTOGRAPHS SINCE 1950. Mit Texten von Russell Ferguson und Kerry Brougher (engl.), Kat. Museum of Modern Art Oxford, Stuttgart: Hatje Cantz 2001

Die Straße ist der wohl am vielfältigsten und nachhaltigsten genutzte, gewissermaßen der ›öffentlichste‹ Bereich des öffentlichen Raums. Als Bühne des Alltags zeichnet sich dieser historisch wie kulturell geprägte Ort durch eine Fülle von bewegten und unbeweglichen Elementen aus, sowie durch die Unvorhersehbarkeit der jeweiligen Konstellationen. Diese formalen, wie auch andere Merkmale verdichten sich besonders auf städtischen Straßen. Anhand weniger Figuren der urbanen Landschaft ließe sich etwa eine Geschichte der Moderne entwickeln, die vom Flaneur über den Reporter zur Konsumentin führt – eine Geschichte, die natürlich auch Erklärungen zur Geschlechterspezifität dieser paradigmatischen Figuren mitliefern müsste.

Als ein symptombeladener Ort bzw. ›Topos‹ gewinnt die Straße mit ihrer fotografischen Repräsentation weitere Signifikanz. Denn anlässlich der Straßenfotografie treten zentrale Dispositive des fotografischen Mediums (Momentaufnahme, Ausschnitthaftigkeit, Unmittelbarkeit etc.) in Wechselwirkung mit zentralen Kategorien moderner Ästhetik (Zufall, Fragment, Chaos, Spontaneität etc.). Verschiedene Praxen des Aufnahmeaktes schlagen sich in einer jeweils spezifischen Rhetorik nieder, wobei einerseits die ›pirschende Jagd‹ und andererseits das präzise Adjustieren bzw. Ausponderieren eines Szenarios zwei Pole bilden.

Was die Sujets oder Themen betrifft, impliziert das Genre, zumindest potenziell, eine Reihe der klassischen fotografischen Gattungen, wie das Porträt, die Architekturaufnahme oder die Landschaftsfotografie; vor allem aber gibt es weitreichende Überschneidungen und Zusammenhänge mit Reisefotografie, Reportage oder Sozialdokumentation. Diese zur Institution gewordenen Aufgaben der Fotografie wurden nicht nur vonseiten der Theorie bzw. Kunstwissenschaft seit den 1970ern kritisch hinterfragt, sondern auch innerhalb der künstlerischen Praxis untersucht – eine Entwicklung, die sich ebenso, und mitunter besonders, an der Straßenfotografie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt.

GARRY WINOGRAND, Los Angeles, 1964

Die beiden amerikanischen Kuratoren Kerry Brougher und Russell Ferguson stellten eine Ausstellung zur Straßenfotografie seit 1950 zusammen, die nach drei Stationen in Europa nun im Hirshhorn Museum in Washington (13.6.–8.9.2002) gezeigt wird. Der Englisch-sprachige Katalog ist durchaus als selbständige Publikation empfehlenswert, da er durch die Qualität seiner zwei fotohistorischen Aufsätze sowie seines umfangreichen Bildteils einen guten Einstieg in das Thema und dessen Probleme bietet. Überdies bildet Open City eine gute Ergänzung zur 1994 erschienen, ersten umfassenden Darstellung der Straßenfotografie von Colin Westerbeck und Joel Meyerowitz.1

Neunzehn, überwiegend arrivierte Positionen geben einen Überblick über etwa 50 Jahre Straßenfotografie. Der unverhohlene Schwerpunkt liegt auf Fotografen aus Amerika und Europa (v.a. England). Japan ist durch seine zwei berühmtesten Straßenfotografen – Araki und Moriyama – vertreten. Susan Meiselas (geb. 1948), Catherine Opie (geb. 1961) und Nikki S. Lee (geb. 1970) belegen den geringen bzw. erst in jüngerer Zeit steigenden Anteil von Frauen in der etablierten Fotoszene. Der Einbezug des indischen Fotografen Raghubir Singh als Sonderposition macht die mittlerweile bekannten, allerdings kaum überwundenen hegemonialen Verhältnisse einmal mehr deutlich.

Vielleicht wäre es ehrlicher gewesen, die wenigen und ohnehin kaum repräsentativen, nicht-westlichen Positionen weg zu lassen, und stattdessen die Konzentration auf Amerika und Europa schon im Titel offenzulegen. Denn im Grunde behandelt der Band natürlich nicht die Straßenfotografie seit 1950.2 Vielmehr wird eine spezifische Phase der Geschichte eines Genres und dessen Auflösung als Gattung – dh. als Kanon mit bestimmten stilistischen und wahrnehmungskulturellen Implikationen – vorgestellt.

WILLIAM KLEIN, Gun 2, Little Italy, 1955

Der Moment der Entwicklung, mit dem Open City einsetzt, ist ein überaus fruchtbarer, aber wohl letzter Höhepunkt des Genres. Dieser wurde mit Robert Franks The Americans (1958/9) und William Kleins Life Is Good and Good For You in New York: Trance Witness Revels (1956) eingeleitet und in den Sechzigern am treffendsten von Garry Winogrand repräsentiert. Konsequenterweise wird die in der Nachfolge von Henri Cartier-Bresson arbeitende Tendenz der Straßenfotografie ausgeklammert, auch wenn viele ihrer Vertreter erst nach 1950 wirklichen Erfolg hatten und sich dieser anekdotische, humanistische Stil des ›entscheidenden Momentes‹ – etwa innerhalb der Mitglieder der Agentur Magnum – noch lange Zeit hielt. Stattdessen wird gezeigt, wie sich vor dem Hintergrund einer desillusionierten oder ironischen Weltsicht, die sich zuerst im Kinofilm manifestierte (der Titel spielt auf Rossellinis ›Roma, citta aperta‹ von 1945 an), ein neuer, schroffer Stil zu Fotografieren entwickelte, der auf Eindeutigkeit in Aussage, Motivwahl, formaler und narrativer Struktur verzichtete.

ROBERT FRANK, aus ›Les Américains‹ (Paris 1958) / ›The Americans‹ (New York 1959)

Anhand von Ideen wie jener des drifting sowie verbesserten technischen Möglichkeiten bildete sich eine Ästhetik in der Straßenfotografie heraus, die dazu beitrug, den Status des Mediums und seiner Institutionen – etwa die Relationen zu Kunst, Fotojournalismus und Modefotografie – weiter zu differenzieren. Diese Fotografie lieferte scheinbar absichtslose und un-komponierte, teils unscharfe und schwer lesbare Bilder in schlechter Printqualität. Indem damit, neben anderen Implikationen über Gesellschaft und Individuum, Spontaneität, Authentizität und Zufall repräsentiert wurden, war ein neues Paradigma für eine modernistische Fotokunst gewonnen. Inhaltliches Engagement oder vorbereitende Auseinandersetzung waren verpönt, stattdessen sollten spontane Aufnahmen lakonische Bilder aus der anonymen Menge isolieren. Die (meist männlichen) Autoren schrieben sich nicht nur durch die Gestik ihrer Shots, sondern mitunter auch durch materielle Eingriffe (bewusst nachlässiger Umgang mit Filmmaterial und Abzügen) ins Fotobild ein. Winogrand konfrontiert schließlich seine Sujets – häufig weibliche Passanten – aggressiv mit der Kamera. Abseits dieses Weges der Straßenfotografie arbeitete man freilich auch an einfühlsamen Porträts bestimmter Stadtviertel (Nigel Henderson) und an neuen fotoästhetischen Bildmitteln, wie dem Einsatz von Farbe und unkonventionellen formalen Ordnungen (Eggleston, Friedlander).

LEE FRIEDLANDER, Lafayette, Louisiana, 1968

Eine nächste Etappe der Entwicklung manifestierte sich in kritischer Auseinandersetzung mit der Tradition des Genres, dessen ostentativ anti-pikturalistisches Vokabular mittlerweile zu einer modischen Attitüde geworden war. Allan Sekula überwand etwa mit seiner ›Untitled Slide Sequence‹ (1972) die Dignität ›entscheidender Momentes‹ sowie die Beliebigkeit formaler Findungen; auf der Basis eingehender fotohistorischer Reflexionen arbeitet er an einer Re-politisierung fotografischer Dokumentation. Jeff Walls großformatiger Leuchtkasten ›Mimic‹ (1982) greift die formalen Mittel von Henri Cartier-Bresson und Robert Frank auf. Der Zufallsfund eines sprechenden Momentes wird allerdings sorgfältig inszeniert bzw. (nach)komponiert. Damit und auch durch die Präsentation der Arbeit werden die Paradigmen der Fotoreportage bzw. Straßenfotografie, v.a. der Anspruch auf Authentizität, unterlaufen.

JEFF WALL, Mimic, 1982

Für eine jüngere Generation (Thomas Struth, Beat Streuli, Catherine Opie, Wolfgang Tillmans und Nikki S. Lee) sind genretypische Verbindlichkeiten oder Bezüge vergleichsweise unwichtig geworden. Denn schließlich haben sich die Verhältnisse seit den Nachkriegsjahren stark gewandelt. Nicht nur die institutionellen oder diskursiven Bedingungen der Fotografie sind andere, sondern auch jene politischen und ökonomischen Faktoren, die das Straßenbild und den urbanen Raum selbst bestimmen. Trotzdem gilt die Straße immer noch als ein Schauplatz – ein geradezu ideales Feld für vielfältige Ambitionen zeitgenössischer Fotografie, ohne dass diese damit auf einen Begriff zu bringen wäre.


1  Bystander: A History of Street Photography with an Afterword on Street Photography Since the 1970s, Bulfinch Press 2001 (1994). In der Neuausgabe wurde der behandelte Zeitraum durch ein Nachwort erweitert; dennoch unterscheiden sich Schwerpunkt und Herangehensweise dieses Buches stark von Open City.

2  Beispielsweise fehlen Arbeiten von Fotografen aus dem Osten (Boris Michailov, Jindrich Streit...) oder aus dem spanischen bzw. lateinamerikanischen Raum (Cristobal Hara, Pablo Ortiz Monasterio...). Man verzichtete aber auch auf so bekannte Straßenfotografen wie Martin Parr, Tom Wood, Joel Sternfeld oder Henry Bond.