Zu Michael Nagls Fotoserie ›Science Fiction‹

Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung ›Science Fiction‹ im Atelierhaus C.21, Maria-Lassnig-Straße 33, Wien, 14.11.2023 (hier gekürzt)

MICHAEL NAGL, Plakat zur Ausstellung (›M-City Mistelbach, März 2193‹, aus der Serie ›Science Fiction‹, 2023)

Die Arbeit an seiner neuesten Werkgruppe führte Michael Nagl in Industriegebiete des 19. Jahrhunderts im Umkreis von Wien, der damaligen Metropole der Donau-Monarchie. So fotografierte er etwa in Blumau-Neurisshof, wo in einer Sprengstofffabrik ab den 1890ern Nitrozellulose, Dynamit und Salpetersäure hergestellt wurden oder in Wöllersdorf, dem Standort der einst größten Munitionsfabrik des Habsburgerreiches. Allerdings lassen seine Aufnahmen zunächst bloße Naturlandschaften erkennen, während die baulichen Residuen meist erst bei näherer Betrachtung deutlich werden, etwa an eingegossenen Eisenarmierungen oder an der Regelmäßigkeit von vermeintlichen Felskanten. Es ging also nicht um die Ästhetik des Verfalls von Fabrikruinen oder ein architekturhistorisches Reportage-Projekt in Niederösterreich.

MICHAEL NAGL, ›Design Outlet Center Parndorf, April 2113‹, aus der Serie ›Science Fiction‹, 2023

Stattdessen verorten die Bildtitel diese Ansichten scheinbar idyllischer Natur geografisch sowie zeitlich neu: ›Design Outlet Center Parndorf, April 2113‹ titelt etwa ein Motiv, das im Frühling 2023 in Neurisshof aufgenommen wurde; andere Titel verweisen auf megalomane Gewerbeparks, konkrete Autobahnabschnitte oder auf ein riesiges Logistik-Lager ­– also besonders unansehnliche Orte der Gegenwart, die mit massiver Umweltbelastung einhergehen. Diese wurden in der Serie ›Science Fiction‹ sanft vereinnahmt, gleichsam befriedet: in einer fiktiven Zukunft ließ die Natur zumindest die baulichen Verbrechen unter Sediment und Bewuchs verschwinden. In den Worten des Fotografen wird hier gezeigt, wie die Welt aussehen könnte, ›wenn wir Menschen nicht mehr da sein werden‹; dabei sei tröstlich, dass es ›resiliente Pionierpflanzen immer geben‹ werde.

MICHAEL NAGL, ›Thermalbad Bad Vöslau, April 2223‹, aus der Serie ›Science Fiction‹, 2023

Im Gegensatz zum fiktionalen Charakter der literarischen Titelsetzung steht die fotobildnerische Gestaltung. Denn die Detailgenauigkeit dieser Landschaften ist auch eine Detailtreue: Trotz digitaler Technik arbeitet Michael Nagl nach dem Grundsatz der Straight Photography und zeichnet auf, was so gewesen ist, ohne es nachträglich zu verändern. Und während die titelgebenden Un-Orte im realen Kontext meist weithin sichtbar sind, wurden die tatsächlich aufgenommenen Plätze relativ mühevoll erwandert und entdeckt. Ein zentrales Gestaltungselement der Landschaftsfotografie, der Bildausschnitt, ist in jedem Fall sehr bewusst gewählt, wie auch die jeweils eingesetzte Optik. Bemerkenswert ist die Präzision im kompositorischen Aufbau, wofür alle Parameter arretiert wurden, bis jeder Ast ins Gefüge passt.

Auch bildtypologisch wurzeln diese Landschaften im 19. Jahrhundert, am Beginn der Moderne: Statt heroisch-fernsichtiger Panoramen zeigt der damals aufkommende Typus überschaubare Naturstücke, deren Dimension zu aufmerksamer Betrachtung im Bildmittelgrund einlädt. Beispiele dafür sind die zur Kontemplation anregenden Naturansichten der Romantik, auch die detailreichen, beschaulichen Biedermeier-Landschaften und Paysages intimes des Stimmungsimpressionismus mit seinem besonderen Interesse an Atmosphäre und Licht. Der Typus bildete sich also zur Zeit der Industrialisierung heraus, als der Prozess unmäßigen Raubbaus seinen Anfang nahm und bereits in der Donau-Monarchie entsprechende soziale, politische und ökologische Folgen zeitigte. So wurde (unberührte) Natur wertvoller und zum bevorzugten Ort der Erholung der Städter sowie ein beliebtes Schmuckmotiv in der Ausstattung bürgerlicher Wohnzimmer.

MICHAEL NAGL, ›A2 bei Kilometer 59, September 2203‹, aus der Serie ›Science Fiction‹, 2023

Medienhistorisch und bildpolitisch nähergelegene Bezugspunkte dieser Serie finden sich in der Tradition der amerikanischen Fotografie, wie sie 1975 in der Ausstellung New ›Topographics. Photographs of a Man-altered Landscape‹ durch Fotografen wie Lewis Baltz, Stephan Shore oder Robert Adams begründet wurde. Diese politische Landschaftsfotografie widmete sich unspektakulären Szenarien, an denen sich soziale, kulturelle, ökonomische oder andere menschengemachte Symptome ablesen lassen. Nicht die Idealvorstellung von Landschaft, wie sie etwa der berühmte Ansel Adams (1902–1984) verbreitete, sondern die dokumentarische Sicht auf eine durch Gewerbe, Transport und Naturausbeutung geprägte Umwelt wurde zum Gegenstand der zivilisationskritischen Fotografie. Robert Adams (geb. 1934), der sich immer wieder anerkennend zu Michael Nagls Arbeit äußert, setzte sich etwa mit der weitläufigen Rodung der amerikanischen Urwälder auseinander. In Interviews offenbart er einen biografisch begründeten, auch emotionalen Impuls für seine Arbeit. Er möchte nicht nur mit Zerstörung konfrontieren und aufzeigen, was wir verloren haben, sondern auch Würde, Hoffnung und Frieden in dem finden, was geblieben ist.

Michael Nagl findet in der Natur ebenfalls Trost, inmitten von widerständigen Pflanzen, inklusive aller Neophyten, den MigrantInnen der Vegetation. Die Arbeit an der Serie ›Science Fiktion‹ hatte eigentlich mit der Suche nach Landschaften seiner Kindheit begonnen, worin er dann Reste der industriellen Revolution entdeckte. Seine Fiktionen von Naturlandschaft, die in einer fiktiven Zukunft die Wunden früherer Industrialisierung und Ausbeutung überwindet, sind also auch aus einer gewissen Sehnsucht heraus entstanden.

MICHAEL NAGL, ›Arena Nova Wiener Neustadt, September 2143‹, aus der Serie ›Science Fiction‹, 2023

Der Trost, den diese Bilder den Betrachtenden spenden, liegt weniger im Plot der dargebotenen Science Fiction – denn dieser setzt ja das Ende der Menschheit voraus –, sondern vor allem im befriedigenden Prozess des Schauens auf unverhofft Schönes, mit dem dieser Plot geschildert wird. Erreicht wird dies durch Bildräume, die auf besondere Weise zu genauer Betrachtung einladen: Es sind kabinettartig begrenzte, überschaubare Naturräume, auf die man oft durch Blickbahnen geführt wird; meist sind die seitlichen Formatränder sowie der hintere Bereich des Bildraums durch Bewuchs eingefasst. Mag sein, dass dies auch dem Bemühen geschuldet ist, alles auszuklammern, wovon die Erde in einer fiktiven menschenlosen Zukunft befreit wäre, also etwa Shoppingcenter, landwirtschaftliche Monokulturen oder auch Kondensstreifen. Aber genau dadurch wird die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf eine schier unerschöpfliche Fülle an vegetabilen und atmosphärischen Details gelenkt, die in der fein gezeichneten Pigmentierung der Prints gegeben ist. Ein besonderer Augengenuss ist auch die Farbpalette, die beispielsweise Lichtstimmungen oder Wolkenformationen in zartesten Nuancen wiedergibt – eine Luftperspektive, die ohne Weite auskommt. In der Malerei waren solche Stimmungen Vehikel, um Transzendenz und Sentiment zu vermitteln – Michael Nagl schafft indes Aufnahmen ohne Pathos, mit deren glaubwürdiger Realitätsnähe ihm der Kunstgriff einer Verschränkung von fotokünstlerischer Ästhetik und umweltpolitischer Ethik gelingt.