Kontexte der Perspektivität. Zu den Architekturaufnahmen von Kurt Hörbst

Publiziert in: Architektur : Bild. 2022, hg. von Kurt Hörbst, 2022, S. 8–9.

ARCHITEKTUR : BILD. 2022, hg. von Kurt Hörbst. Architektur: Werner Neuwirth, mia2, BASEhabitat, Marchgut, Nonconform, Karl&Bremhorst, WGA u.v.a. Fotografie: Kurt Hörbst. Text: Marie Röbl, Linz (Eigenverlag) 2022

Architektur und Fotografie: Verhältnisse

Für die Geschichte der Fotografie spielte Architektur eine besondere Rolle: Die ersten bekannten fotografischen Aufnahmen aus den 1820er und 30er Jahren, die nur nach langen Belichtungszeiten möglich waren, zeigen Gebäude und städtische Straßenzüge. Sobald sich die Produktionsverfahren verbessert hatten, widmete sich Reisefotografie vor allem historischen Baudenkmälern. Mit der internationalen Verbreitung dieser neuen Bilder von Sehenswürdigkeiten, die in natura zu sehen nur Wenigen vorbehalten waren, wurden erste Effekte von Mediatisierung deutlich, wie sie die visuelle Kultur des 20. Jahrhunderts prägen sollten. Es gibt aber auch einen buchstäblich ›fundamentalen‹ Zusammenhang von Architektur und Fotografie: Zentrale Entwurfs- und Vermittlungsmethoden im Bauwesen basieren auf der Perspektive bzw. den Regeln der Geometrie; und auch die physikalischen Grundlagen der fotografischen Technik beruhen auf den Gesetzen geometrischer Optik. Das essentielle Element der (geraden) Linie – als Gebäudekante oder als Ausbreitungsweg von Lichtstrahlen – und ihre Verkürzung, Brechung wie Verzerrung bei perspektivischer Darstellung oder Projektion durch Linsen verbindet die beiden Kulturtechniken des Entwerfens und der fotografischen Aufzeichnung von Architektur.

Eine Kernaufgabe baukünstlerischer Gestaltung zielt auf die Konstruktion einer bestimmten Verhältnismäßigkeit dreidimensionaler Körper; die Fotografie ist ein ideales Instrument zur Visualisierung dieser Verhältnisse, da sie diese auf technischer Grundlage, gleichsam automatisch, darstellt. Unter bestimmten Voraussetzungen, wie sie etwa die Fotogrammmetrie bietet, lassen sich die damit ins Zweidimensionale übertragenen Bauteile, ihre Lage im Raum und zueinander, wieder als metrische Werte berechnen. Allerdings ist das fotografische Abbild von Architektur weder eine unmittelbare noch eine umfassende Übersetzung von gebauter Umwelt. Vielmehr birgt das apparative Dispositiv der Kamera eine Reihe an funktionalen Variablen, die – jedenfalls avancierten Fotografierenden – vielfältige Gestaltungsspielräume eröffnen. Aber gleichgültig, ob bewusst gewählt oder von der Kamera automatisch vorgegeben, manifestieren sich in jeder Fotografie eine Fülle von Aufnahmebedingungen in jeweils besonderen Beziehungen der einzelnen Elemente des Bildraumes zueinander. So lässt beispielsweise ein Teleobjektiv Vorder- und Hintergrund enger zusammenrücken und den Bildraum flach wirken. Der fotografische Bildraum erlaubt es jedenfalls, Relationen bis über die Grenze der Lesbarkeit hinaus zu modifizieren.

Ein entscheidender Faktor im System optischer Darstellungsprinzipien ist der Maßstab, also die Abbildungsgröße, die bei der Konstruktion von Fotolinsen für Kameraobjektive in Zusammenhang mit der Brennweite steht. Da Gebäude naturgemäß eine gewisse Dimension aufweisen, erfordert professionelle Architekturfotografie bis heute eine Ausrüstung und ein Fachwissen, die von der gegenwärtigen allgemeinen Nutzung der Fotografie deutlich abweichen: Im Vergleich mit der einfachen Handhabung am Handy, die Fotos zu einem kurzlebigen Kommunikationsmittel in digitalen sozialen Medien macht, erinnert die Arbeit der Architekturfotografie mit Stativen, Großformat-Kameras und sorgfältiger Bildbearbeitung an die Frühzeit des Mediums.


Motive und Motivationen: Bildsprache

Ein Verständnis von Architektur als im sozialen Kontext raumgestaltende Praxis entwickelte sich im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund von institutionellen und diskursiven Umwälzungen seit (und in kritischer Auseinandersetzung mit) der Moderne. Im Zusammenhang damit begannen sich auch Gattungsgrenzen sowie Gestaltungsnormen in der Fotografie zu wandeln. Neben der modellhaften Demonstration, der Dokumentation oder Interpretation einzelner Bauten und architektonischer Ensembles widmet sich neuere Architekturfotografie auch verschiedenen Kontexten, wie Bezügen zur lokalen Umgebung und Aspekten der Nutzung. Diese Aufgaben lassen sich jeweils in sachlicher Großbildfotografie, inszenierten Studioaufnahmen oder digital bearbeiteten Montagen, Reportagen oder sogar Schnappschüssen umsetzen. Dabei können die verfolgten Ziele beispielsweise künstlerischen, wissenschaftlichen oder werbenden Motivationen verpflichtet sein.

Perspektive ist fotografischen Aufnahmen nicht nur als Sehwinkel mit objektiv errechenbaren Projektionsgesetzen immanent, sondern – in ihrer metaphorischen Bedeutung als Blickwinkel – auch als eine subjektiv geprägte Sichtweise auf die Gegebenheiten vor der Kamera. Neben den Parametern der Aufnahmetechnik sind die Wahl von Ausschnitt, Aufnahmestandort, -richtung und -zeitpunkt die wichtigsten Entscheidungen, in denen sich der spezifische Blick der Person hinter der Kamera bildlich manifestiert. Daraus ergibt sich eine Gewichtung, etwa in Proportionen von Licht- und Schattenbereichen, und mithin die Komposition der Bildelemente als bildsprachliches Vehikel, das diesen Blick lesbar macht. Wie jedes Genre, beruht auch die Architekturfotografie auf einem System von Konventionen und erzählt eine Geschichte, in dessen Mittelpunkt die Charakterisierung eines Gebäudes steht.


Kurt Hörbsts Blick auf Architektur

Wie 2017 in einem Artikel von Norbert Philipp in der Tageszeitung Die Presse zu lesen war, findet Kurt Hörbst seine Kamerastandpunkte, indem er ›lieber ein paar Schritte zurückgeht‹, auch wenn er dazu auf die Dächer umliegender Häuser klettern muss. Durch diese bewusste Distanzierung tritt auch Umgebung ins Bild. Dabei zeichnet sich seine Arbeit dadurch aus, wie er Gebäude in Beziehung(en) setzt. Im Unterschied etwa zur Praxis idealisierender Architekturfotografie, die ein Bauwerk in möglichst formatfüllender Nahsicht freizustellen sucht, liefern die in Hörbsts Aufnahmen erkennbaren Kontexte nicht nur einen informativen Mehrwert, sondern tragen auch wesentlich zur Charakterisierung des Hauptmotives bei.

Im Fall eines Hotelkomplexes beim Wiener Prater wählt Hörbst seine Aufnahmerichtung so, dass Fahrgeschäfte des angrenzenden Vergnügungsparks in unmittelbarer Nähe zum Gebäude auftauchen und damit den städtebaulichen Standort verdeutlichen. Ein zur preisgekrönten Betriebsstätte umgebauter Kuhstall in Vorarlberg erscheint als Fassadenfläche, die das verwendete Material Holz in eine symmetrische Balance zum Wald im Hintergrund rückt. Ein ebenfalls prämiertes (hier am Cover abgebildetes) Atelierhaus mit unterschiedlichen Innenraumhöhen, denen ein ungewöhnliches Muster an Fenstergrößen und -verteilung an der Fassade entspricht, wird in Hörbsts Aufnahme zu einem Sinnbild für Diversität: er verbindet Spiegelungen der Umgebung mit Einblicken in die Innenräume auf unterschiedliche Möbelagen (darunter einen Wäscheständer).

Der Hybris individualistischer Monumentalisierung entgegen arbeitet er auch in Beispielen, in denen Bäume die Blickachsen kreuzen oder Hügel Bildbereiche im Vordergrund füllen, die bei der Betrachtung gleichsam erst erklommen werden müssen, bevor das Gebäude erreicht wird. Bei vielen Aufträgen wird großflächig Himmel mit ins Bild genommen, der die Weite des Umlandes betont und ebenso eine maßgebliche Rolle in der Bildkomposition spielt, etwa zur dynamischen Blickführung über markante Wolkenbahnen. Licht steht in diesen Szenarien nicht im Dienste idealer Darstellung von architektonischen Details (wie in hieratischen Architekturaufnahmen, die bei homogenem Himmel eine sterile Ewigkeit herstellen), sondern schildert als available light vor allem Atmosphäre. So werden Wetterlagen, Jahres- oder Tageszeiten spürbar, die die je konkreten Verhältnisse in einem temporären Kontext verorten, wobei verschattete Felder und Silhouetten auch eine bildtragende Funktion übernehmen. Das milchige Licht im Innenraum einer Kapelle verbindet die Farbgebung der Innenarchitektur mit den darin betenden Mönchen und verdeutlicht ein stimmiges Design in der Nutzung.

Dass Hörbst fotogestalterische Mittel nicht zur Ästhetisierung eines autonomen Bildes einsetzt, sondern damit Anregungen für Narrative liefert, die spezifische Aussagen über Eigenschaften der dargestellten Architektur lesbar machen, wird besonders deutlich an den mit-aufgenommenen Menschen. Sie sind keine Staffagefiguren zur anonymen Belebung oder um bloße Größenverhältnisse zu demonstrieren, sondern Personen, die die gezeigten Gebäude tatsächlich passieren, benutzen oder bewohnen. Bei Aufnahmen von Kindern, von denen gelegentlich eines neugierig zum Fotografen blickt, ist offensichtlich, dass ihr authentisches Agieren nicht für die Kamera gestellt ist. Hörbst bringt hier zur Anwendung, dass es kaum ein treffenderes Bild für Nutzbarkeit gibt, als spielende Kinder, deren Bewegungsbahnen und -formen einen spezifischen Raum auf die Probe ›wilder Inbesitznahme‹ stellen. Erwachsene stehen oftmals an Fenstern oder durchqueren Türöffnungen und markieren so neuralgische Punkte architektonischer Gestaltung. Fotografische Darstellung erfasst Bewegung üblicherweise mittels Momentaufnahmen, was den Bedingungen von detailreicher Architekturfotografie meist (je nach gegebenen Lichtverhältnissen) entgegensteht; so findet sich in Hörbsts Bildern immer wieder Bewegungsunschärfe. Die (technisch gesehen) ›verminderte‹ Abbildungsleistung gewinnt in diesem Zusammenhang besonderen Sinn: Bewegung als aktive Handlung oder Aneignung von Raum bezeichnet damit weniger eine individuelle Person, als vielmehr den konkreten gebauten Ort, der diese Bewegung ermöglicht.

Der spezifische Blick, den Kurt Hörbst in seinen Auftragsarbeiten auf Architektur richtet und fotografisch umsetzt, ist in seinen freien künstlerischen Projekten vorbereitet, in denen er, grob gesagt, das Verhältnis von Architektur und Mensch anhand besonders sensibler Themen hinterfragt. So widmete er sich etwa einem vor dem Abriss stehenden Altersheim, den Überresten von Konzentrationslagern sowie einem umstrittenen Autobahnbau durch die Mühlviertler Landschaft. Bildern von Spuren und weiteren Folgen baulich-zivilisatorischer (in vielen dieser Fälle müsste man eigentlich sagen: unzivilisierter) Maßnahmen stellt er dabei Zitate und Porträtaufnahmen von Betroffenen gegenüber oder er thematisiert dieses Verhältnis implizit in subtil komponierten Tableaus. Die fotografische Bildsprache und die Sensibilität im Blick ›auf die Verhältnisse‹, die er dabei entwickelte, prägen auch seine Auftragsarbeiten, in denen diese Verhältnisse glücklicherweise allermeist zu erfreulichen Lösungen führen.