Henri Cartier-Bresson, ›Derrière la Gare Saint-Lazare‹, Paris 1932

Katalogtext zu Los 80 der 24. Ostlicht Photo Auction am 19.11.2021. Schätzpreis € 30.000–35.000, publiziert im Online-Auktionskatalog (dort gekürzt) https://www.ostlicht-auction.com/auktion/en/auctions/24thostlichtphotoauction

Henri Cartier-Bresson, Derrière la Gare Saint-Lazare, Paris 1932. Silbergelatineabzug, geprintet c. 1960, großformatiger Ausstellungsprint, 55,2 x 39,2 cm, rücks. Fotografenstempel. Courtesy: Ostlicht Photo Auction, Wien (Lot 80)

Im Jahr 1932, in dem Henri Cartier-Bresson (1908–2004) mit der Leica zu arbeiten begann, nahm er hinter dem Pariser Bahnhof Saint-Lazare seinen legendären ›Pfützenspringer‹ auf. Dieser ist genau in jenem Augenblick erfasst, bevor er mit seinem Fuß die glatte Wasserfläche berührt und damit die perfekte Spiegelung zerstört. Das Motiv der Verdopplung, eine der treffendsten Metaphern für die Fotografie, findet sich nicht nur im springenden Passanten und seiner wie im Scherenschnitt replizierten Gestalt, sondern erscheint mehrere Male und in komplexen Verschränkungen: So bewerben zwei verschiedene Plakatmotive am Zaun im Hintergrund den Zirkus Railowsky, wobei jedes in zweifacher Ausführung angebracht wurde und sich alle vier Plakate zusätzlich in der Wasserfläche spiegeln; das illustrierte Plakat zeigt die Silhouette einer Akrobatin in weitem Sprung. Daneben steht ein Mann, der ebenso in der Wasserfläche reflektiert wird; er fungiert als kompositorischer Anker, der die Bildfindung in der Vertikalachse stabilisiert und verweist damit zugleich auf einen weiteren fototheoretischen Topos, das Wechselspiel von Stillstand und Bewegung.

Cartier-Bresson bannte mit diesem ›im entscheidenden Moment‹ aufgenommenen Schnappschuss eine faszinierende Komposition auf seinen Film (wobei übrigens dessen Lichtempfindlichkeit – verglichen mit heutigen Maßstäben – erstaunlich gering war). Er schuf damit ein paradigmatisches Beispiel für seine fotografische Herangehensweise, wie er sie zwanzig Jahre später im einflussreichen Fotobuch Images a la Sauvette (engl. The decisive Moment) erläuterte: ›Ich hatte gerade die Leica entdeckt. Sie wurde zum verlängerten Arm meines Auges, und seit ich sie gefunden hatte, habe ich mich nie mehr von ihr getrennt. Ich streifte den ganzen Tag durch die Straßen, fühlte mich sehr aufgeregt und bereit, zuzuschlagen, entschlossen, das Leben einzufangen – das Leben im Akt des Lebens zu bewahren. Vor allem wollte ich die ganze Essenz einer Situation, die sich gerade vor meinen Augen entfaltete, in einem einzigen Foto festhalten‹.

Zum Signum dieser Auffassung wurde der schmale schwarze Streifen um den Bildrand, der das bei der Aufnahme kadrierte Format markiert, und damit die vom Bildautor gefundene Komposition betont. Das Frühwerk ›Derrière la Gare Saint-Lazare‹ gehört allerdings zu den überaus seltenen Ausnahmen, in denen Cartier-Bresson den Bildausschnitt erst nachträglich festlegte. In einem Interview erklärte er dies damit, dass er durch eine schmale Lücke im Bauzaun fotografiert hatte, die nicht breit genug für sein Objektiv war, weshalb er das Aufnahmeformat links beschneiden musste. Dies schmälert aber nicht seine Leistung, unter diesen Bedingungen eine derart vielschichtige Fotografie aufzunehmen, in der praktisch alle Elemente und Faktoren zu einem sinnfälligen Bild zusammenfanden – ›Nur der Entschlossenheit kann das aus der Mit- und Umwelt zu-fallen, was wir Zufälle nennen‹ (Martin Heidegger).


Lit.: Lincoln Kirstein, Beaumont Newhall (Hg.), The Photographs of Henri Cartier-Bresson, The Museum of Modern Art, New York 1947, S. 24; Henri Cartier-Bresson, Images à la Sauvette, Paris 1952, pl. 26; Yves Bonnefoy (Hg.), Henri Cartier-Bresson, Photographe, Paris 1979, pl. 14; Peter Galassi (Hg.), Henri Cartier-Bresson: The Early Work, The Museum of Modern Art, New York 1987, p. 101; Vera Feyder, André Pieyre de Mandiargues, Henri Cartier-Bresson (Hg.), Paris à vue d’oeil, Paris 1994, pl. 33; Jean-Pierre Montier (Hg.), L'art sans art d'Henri Cartier-Bresson, Paris 1995, p. 96; Henri Cartier-Bresson, De qui s’agit-il? Paris 2003, S. 59; Régis Dubois, Une scène de la vie quotidienne, 2008, unter: www.lesensdesimages.com; Martin Heidegger: Sein und Zeit, 12. Aufl. Tübingen 1972, S. 300.