Dadaismus als Theorie gegen den Logos. Einführung in Raoul Hausmanns ›Dadasophie‹

Vortrag im Rahmen der Montagsvorlesungen im Kunstraum Wien, Museumsquartier, am 24.6.1996 sowie in der Galerie der Stadt Wels am 7.4.1997 (hier resümiert)

RAOUL HAUSMANN, ›Ein bürgerliches Präcisionsgehirn ruft eine Weltbewegung hervor‹ (Dada siegt!), 1920. Collage und Aquarell auf Velinpapier, 33,5 x 27,5 cm. Courtesy: Berlinische Galerie; Eva Züchner, Raoul Hausmann. Der deutsche Spießer ärgert sich, Berlin: Gerd Hatje 1994, S. 185

Der 90-minütige Vortrag beschäftigt sich mit der künstlerischen Arbeit des Dadaisten Raoul Hausmann (1886–1971) aus seiner Zeit in Berlin, vor allem mit dessen ›dadasophischen‹ Texten. Dabei kommen nicht nur Manifeste zur Sprache, in denen Hausmann die zentralen Werte ›bürgerlicher Geistestradition‹ angreift, sondern auch spätere, weitgehend unbekannte Schriften. In ihnen scheint der nihilistische, antimetaphysische Impetus der früheren Werke von metaphysischen Fragen eingeholt – sie widmen sich ›universalen Gesetzmäßigkeiten‹ und den Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis.


1. Dadaismus

Einführung in die Bewegung des Dadaismus, ihre Strategien und Methoden, mit besonderem Fokus auf deren anarchistische oder nihilistische Tendenz sowie ihrer metaphyischen Implikationen. Verweis auf Greil Marcus, der den Dadaismus als einen ›gnostischen Mythos‹ bezeichnete, ›den Versuch also, die zentrale Frage der Erkenntnistheorie in einem Kraftakt zu klären, die Frage nach der Möglichkeit der Einsicht in das Übersinnliche, Transzendente‹. Überleitung zu Hausmanns entsprechenden Ideen, die die Philosophie und Erkenntnistheorie ebenso berühren wie die Kulturgeschichte, die Soziologie, die Ethnologie, Anthropologie, Psychologie, Physik und Wahrnehmungstheorie.


2. Raoul Hausmann

Referat der wichtigsten biografischen Daten zu Raoul Hausmann und seiner Rolle in der Berliner Dada-Bewegung; Vorstellung der wichtigsten Mitstreiter und Begleiterinnen (Hans Richter, Arthur Segal, Conrad Felixmüller, Salomo Friedlaender, Franz Jung, Otto Gross, Ernst Marcus, Richard Huelsenbeck, Johannes Baader, George Grosz, Hannah Höch und John Heartfield). Die Vielseitigkeit seiner Interessen und Ambitionen deutet Hans Richter an, der Hausmann beschreibt als ›Erfinder, Modeschöpfer und Photomonteur, Optophonetiker und Klytämnestra-Komplex-Entdecker, Welteislehre-Verfechter, philosophischer Photograph, photographischer Maler, malerischer Dichter und dichterischer Schauspieler, schauspielender Erotiker und erotischer Dadaist‹.


3. Dada siegt!

Analyse der gleichnamigen Arbeit von Hausmann, die seine theoretischen und ästhetischen Interessen vorführt; die Widersprüchlichkeit von Lichtgebung, Größenmaßstab und perspektivischer Darstellung der einzelnen, meist aus Reproduktionen geschnittenen Gegenstände ergibt ein komplexes, a-logisches Raumsystem. Es scheint, als würden die Zentralperspektive sowie Apparaturen begrifflicher und kalkulierender Weltaneignung kritisiert; gleichzeitig aber galt Hausmann die Fotografie als einzig berechtigte Mitteilungsform, etwa ›zur mechanischen Steigerung der Naturkräfte‹. Seine Montage stellt das Bild selbst als sinnstiftende Ordnung infrage, indem es seine rhetorischen Möglichkeiten analog und bis zum Paradox diskutiert – und damit letztlich jede künstlerisch-bildnerische Arbeit als Abstraktion kritisiert. Hausmann verstand den Dadaismus als eine Gegenbewegung zur Abstraktion, die er als reduzierte Verkürzung einer Erfahrung und außerdem elitäre Schöpferanmaßung auffasste.


4. Dada ist mehr als Dada

Einführung in die theoretischen Schriften Hausmanns zu gesellschaftspolitischen Themen sowie zur Rolle des Dadaismus. Hausmann: ›Das integrierendste Moment des Dadaismus ist sein Streben fort vom kosmisch-metaphysisch gefassten Individuum zur Identität der Welt und der unsichtbaren Gesetze‹. Zentrale Begriffe der Texte dieser Zeit sind ›Erleben‹ und ›Psychomorphologie‹; Impulse dazu verdankt Hausmann Max Stirner, Friedrich Nietzsche und Otto Grosz. Einzelne Problemstellungen Hausmanns werden anhand verschiedener Schriften von Henri Bergson, Georg Simmel, Oswald Spengler, Ernst Haeckel, Gustav Fechner und Wilhelm Wundt erläutert; daraus wird deutlich, dass der vehement antimetaphysische Impetus des Dadasophen schrittweise von der Frage nach ›lebensgestaltenden Kräften und Gesetzmäßigkeiten‹ eingeholt wird.


5. Die neue Kunst

Analyse des gleichnamigen Textes von Hausmann, in dem er seine post-dadaistische Kunsttheorie entwickelt; er zweifelte daran, durch eine revolutionäre Kunst die Gesellschaft ändern zu können und bedauert die ›Lostrennung der Kunst von den Urkräften des Lebens‹; seine Suche nach ›einer neuen Sprache für unser wiedererwachendes kosmisches Bewusstsein‹ rückt ihn in die Nähe der Grundsätze von De Stijl und Biomorphismus – doch tatsächlich proklamiert Hausmann (abseits von bildnerischer Kunst) die Bildung der fünf Sinne durch ›Présentismus‹, ›Haptismus‹ und die ›Optophonetik‹. Er fordert ›die Arbeit an den physikalischen und physiologischen Problemen der Natur und des Menschen im Sinne einer universalen Verbindlichkeit‹. Erst durch dieses Neuerkennen der Grenzen auf einer neuen physiologischen Basis könne die Kunst wieder zum lebendigen Anschauungsunterricht werden. Folgerichtig widmet sich Hausmann zu dieser Zeit vor allem technischen und naturwissenschaftlichen Fragen.


6. Universale Funktionalität

Mit diesem Begriff wird abschließend die erkenntnistheoretische Position Hausmanns umrissen, die sich für ihn aus der Reflexion des Dadaismus sowie spezifischer zeitgenössischer Einflüsse ergibt: Eine durch physikalische Forschungen zu Schwingungen und Wellen sowie durch die Welteislehre (Hanns Hörbiger) angeregte Begrifflichkeit ermöglichte ihm, über ›universale Gesetze‹ zu sprechen, die dem Menschen verborgen bleiben (müssen), aber sich dennoch durch die morphologischen Strukturen der Phänomene erahnen lassen: ›Ein neues einheitliches großes Weltbild muss vor allem die innere Gegenläufigkeit in allen Erscheinungen aufdecken. Das Wesen des Seins oder vielmehr des Werdens ist die Übereinstimmung des Geschiedenen. Es ist in sich gegenläufig, die Gegensätze der Kräfte und Erscheinung hervorrufend, und ihre Entsprechungen äußern sich für uns in der höheren Einheit der universalen Funktionalität.‹

Obwohl sich Hausmanns Polemik gegen den Logos, also gegen die begrifflich/logische Vernunft, durch sein gesamtes Werk zieht, ließe sich im Hinblick auf Heraklits Begriff des Logos, seine Theorie von der universalen Funktionalität tatsächlich auch als eine ›Theorie an den Logos‹ bezeichnen - Logos im Sinne Heraklits war ja nicht das gesprochene Wort, oder die menschliche Vernunft, sondern so etwas wie ein umfassendes Weltgesetz, das bekanntlich dialektisch strukturiert war, und ›zu dessen Verständnis die Menschen nicht kommen, weder bevor sie es hörten, noch sobald sie es gehört haben, obwohl alles nach diesem Logos geschieht‹ (Heraklit).